Über den Zustand moderner Gesetzesverfahren in der Europäischen Union
Im Rahmen der Vortragsreihe Presidential Lectures des Center for Financial Studies an der Frankfurter Goethe Universität sprach der deutsche Verfassungsrechtler Prof. Dr. Paul Kirchhof zum Thema „Bürgerliche Freiheit im Prozess der Europäischen Integration und eines weltoffenen Marktes“. Von allen anderen Aspekten abge-sehen, machte Kirchhof deutlich in welchem Maß der Staat sich durch wachsende Verschuldung, insbesondere nach dem Desaster der letzten Finanzkrise, mehr und mehr selbst handlungsunfähig macht.
In diesem Zusammenhang lobte Kirchhof von den Ländern der Europäischen Union vor allem Luxembourg, das als einziges Land sich voll im Rahmen der vereinbarten Kriterien bewegt. Doch das Hauptthema von Kirchhof war der Begriff der Bürgerliche Freiheit, den er in einer zunehmenden Anonymität der herrschaftlichen Willensgestaltung schwinden sieht. Beispielhaft zeigt Kirchhof auf, dass die Institutionen der Europäischen Union durchschnittlich betrachtet jeden Kalendertag acht Gesetze produzieren. Auch sei es bereits in Kommissionssitzungen zur Verabschiedung von 80 Richtlinien in einer Stunde gekommen wobei nicht einmal die Zeit verblieb die Überschriften der einzelnen Richtlinien vollständig vorzulesen.
Solche Absurditäten in der Massenmaschinerie der europäischen Gesetzesproduktion werden noch verstärkt durch eine histo-risch bedingte Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Luxembourg. Dort, so kritisiert Kirchhof, hat man den Begriff der Freiheit durch den Begriff der Gleichheit ersetzt. Die ursprüngliche Aufgabe des EuGH war darauf zu achten, dass innerhalb der noch überschaubaren Gemeinschaft der ursprünglich sechs Gründungsmitglieder alle Bürger der jungen EU in allen Mitgliedsstaaten vor dem Gesetz gleich behandelt werden sollten. Eine wohl in den 1960er Jahren noch nicht vorhandene Selbstverständlichkeit.
Heute zieht der Europäischen Gerichtshof mit dem Kompetenzargument der Sorge um die Herstellung der Gleichheit immer mehr Entscheidungsgewalt an sich. So schränkt der EuGH, wenn auch wohlmeinend so doch im Ergebnis oft die Freiheit des Einzelnen und unter Umständen der Mitglieder der Gemeinschaft ein. Die Kurzfristigkeit mit der heute in den verschiedenen Parlamenten Gesetze verabschiedet werden, delegitimiert, so warnt Kirchhof, die Funktion des Gesetzgebers in den Augen der Bürger. Man stellt sich die Frage der sachlichen und fachlichen Kompetenz von Abgeordneten, wenn, wie im Falle der jüngsten Finanzkrise, milliardenschwere Rettungspakte innerhalb von 48 Stunden durch die Parlamente gejagt werden.
Die Bürger der Europäischen Union können sehr wohl unterscheiden zwischen langfristig aus-gewogener Debatte und kurzfristig sinnlosem Aktionismus. Kirchhof mahnt, die Gesetzgeber innerhalb der Europäischen Union müssten wieder zu einer gründli-chen Bearbeitung von Gesetzen kommen, deren Wirkung eine ausgewogene Abwägung der unterschiedlichen Interessenlage aus ihrer Entstehungszeit wider-spiegeln. Dabei wäre es Kirchhof lieber die Parlamente würden sich für ein Gesetz eher ein Jahr Zeit nehmen es zu beraten und zu beschließen, als an einem Tag viele zweifelhaft mit heißer Nadel gestrickte Gesetze einfach durchzu-winken. Kirchhof stellt auch die Frage des öffentlichen Drucks der in der modernen Mediengesellschaft auf den Abgeordneten und Regierenden lastet. So entstehen Gesetze der Auswirkungen nicht gründlich durchdacht seien. Daraus entwickelt sich dann entweder kurzfristiger Änderungsbedarf an erst neulich beschlossenen Gesetzen, oder deren Rechtskraft wird durch Einschreiten des Klageweges von Oppositionellen oder anderen Bedenkenträgern in Frage gestellt.
All diese hektischen Vorgehensweisen tragen zur politischen Frustration und zur Abwendung der Bürger von ihren herrschaftlichen Institutionen bei, was wiederum die Freiheit des Einzelnen wie auch Aller ein Stück weiter bröckeln lässt. Letztlich stellt Kirchhof die Frage nach der tatsächlichen Herrschaft und überlegt, ob wir heute in einer Herrschaft der Parlamente, der Bürokratie, des Plebiszits oder gar der Medien leben.
Jedenfalls werden die vorhandenen Institutionen, wie sie die Verfassungen der Länder in der EU und der Gemeinschaft selbst vorsehen, nur dann ihre Legitimation behalten, wenn sie in den Augen der Bürger auch tatsächlich kompetent erscheinen.