Mit 2020 liegt ein sehr turbulentes Jahr hinter uns – menschlich, gesellschaftlich, politisch und auch an den Kapitalmärkten. Weder für die Kurseinbrüche an den Börsen im Frühjahr noch für die Erholungsrally bei Aktien im Herbst gab es eine Vorlage, Erfahrungen mussten neu gemacht werden. Und wir alle können – frei nach Goethe – sagen: Ich bin dabei gewesen.
Ein Ausrufezeichen gesetzt
Auch das Jahr 2021 verspricht, spannend zu werden. Zum Jahreswechsel schafften es Aktienindizes wie der S&P 500 oder der DAX auf neue Rekordstände – trotz globaler Pandemie. Das Kalkül der Investoren: Mit Zulassung der ersten Corona-Impfstoffe beginnt die Immunisierung der Bevölkerung, das Infektionsgeschehen wird somit sukzessive nachlassen. Die Wirtschaft sollte nach dem Aufheben vieler Restriktionen im öffentlichen Leben wieder Fahrt aufnehmen und so die Unternehmensgewinne kräftig anziehen.
Ob das gelingt? Risiken bleiben. Denken Sie etwa an Mutationen des Coronavirus, die sich rasant verbreiten. Oder an den andauernden „technology war“ zwischen China und den USA. In dieser Auseinandersetzung wird US-Präsident Joe Biden vielleicht einen neuen Ton an-, aber wahrscheinlich keinen neuen Kurs einschlagen. Es wird sich im Jahr 2021 also zeigen müssen, ob in den Aktienkursen zu viele Vorschusslorbeeren eingepreist sind.
Wie schon so oft in den jüngsten Krisen, dürfte sich dabei die Geldpolitik einmal mehr als Stütze erweisen. Die amerikanische Notenbank Fed hatte bereits mit großen Schritten ein Ausrufezeichen gesetzt. Im Dezember erweiterte dann die Europäische Zentralbank EZB ihr Notfallkonzept „Pandemic Emergency Purchase Programme“ (PEPP) nicht nur um 500 Milliarden Euro, sondern verlängerte es auch gleich bis März 2022.
EZB gegen niedrige Inflation
Bei Anleihekäufen und Leitzinsen im Euroraum wird sich auf Sicht also voraussichtlich wenig tun. Interessant wird es im Sommer, wenn die Notenbank die Ergebnisse ihres Strategy Reviews vorlegt. Diese Strategieüberprüfung soll sicherstellen, dass die EZB-Geldpolitik weiterhin ihren Zweck erfüllt, um für Preisstabilität im Euroraum zu sorgen. Gleichzeitig soll sie fit für die Zukunft gemacht werden.
Den Hintergrund bildet der ebenso langjährige wie vergebliche Kampf der EZB gegen die hartnäckig niedrige Inflation im Euroraum. In der zurückliegenden Dekade hat die Notenbank ihr Ziel, die Teuerungsrate gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) „unter, aber nahe zwei Prozent“ zu halten, siebenmal eindeutig verfehlt. Klar genommen wurde die Messlatte nur in zwei Jahren.
Auch 2020 gelang ihr dies nicht, und für 2021 prognostizieren wir einen Wert der Inflation von etwas mehr als einem Prozent. Ein ordentlicher „track record“ sieht anders aus. Wir gehen davon aus, dass die Europäische Zentralbank ihre Definition von Preisstabilität modifizieren wird. Denn abseits aller Krisen muss sie sich auch auf eine strukturell niedrige Teuerung einstellen, die demografische und technologische Trends hervorgebracht haben.
Künftige Zielvorgaben der EZB
Wird sich die EZB dabei die Fed zum Vorbild nehmen? Die US-Notenbank vollführte ihren Strategieschwenk bereits im Sommer 2020. Sie verfolgt nun zwar weiterhin eine Zielmarke von zwei Prozent – die aber nur noch im Durchschnitt erreicht werden soll. Die Fed hat bereits die Konsequenz aus der Auflösung der Korrelation zwischen Arbeitslosen- und Teuerungsrate (Phillips-Kurve) gezogen.
Diese berühmte Phillips-Kurve, einst Inhalt jedes VWL-Grundstudiums und oft Gegenstand wissenschaftlicher Debatten, dürfte 2021 auch im Euroraum faktisch zu Grabe getragen werden. Für uns ist allerdings nicht zu erwarten, dass die Frankfurter Zentralbanker ihre US-Kollegen einfach plagiieren.
Sie dürften sich aber an ihnen orientieren. Konkret halten wir eine Formulierung wie „um die zwei Prozent“ als künftige EZB-Zielvorgabe für denkbar. Damit hielte die Symmetrie Einzug in die Geldpolitik der Eurozone. Offiziell würden dann sowohl ein Über- als auch ein Unterschießen der Inflation gleichermaßen toleriert werden.
Zu Grabe getragen
EZB-Chefin Christine Lagarde und der Rat der Notenbank würden damit ein klares Signal senden: Aus „lower for longer“ wird „lower for even longer“ – oder „for very much longer“, in einer anderen Lesart. Im Ergebnis blieben Leitzinsen und Marktzinsen auf vorerst unbestimmte Zeit extrem niedrig, vielfach sogar negativ.
Nicht gerade die besten Voraussetzungen für Anleihen und Rentenmärkte, aber ein Umfeld, in dem Investoren durchaus bereit sein könnten, die aktuell bereits recht ambitionierten Aktienbewertungen hinzunehmen und möglicherweise sogar deren Ausweitung zu akzeptieren.
Für die Aktienmärkte ergäbe sich daraus eine Art Sicherheitsnetz. Selbst wenn die Unternehmensgewinne doch enttäuschen sollten oder eine weitere unerwartete Pandemiewelle anrollt: Die Geldpolitik dürfte allzu großen Kursabschlägen entgegenstehen.
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