BANKINGNEWS: Sie blicken praktisch durch zwei Brillen auf die Finanzbranche. Aus dieser doppelten Perspektive: Was sind Ihrer Meinung nach die zentralen Trends und was ist jetzt wichtig?
Harald Christ: Ein wesentliches Thema ist natürlich die andauernde Niedrigzinsphase, die für Banken, Versicherungen und Sparer gleichermaßen eine Herausforderung darstellt. Viele Konzepte, die Konsumenten und Konsumentinnen mit gutem Gewissen vor 20, 30 oder 40 Jahren für ihre Altersvorsorge abgeschlossen haben, funktionieren nicht mehr. Es findet praktisch eine schleichende Enteignung der Sparer und Sparerinnen statt – aber auch der Institute. Ein weiteres Thema ist die Kostenseite der Banken, die zu weiteren Konsolidierungen führen wird. Es sind heute schon wesentlich weniger Institute als vor zehn Jahren und der Trend geht weiter. Gründe dafür sind zum einen die Ertragsschwächen einiger Häuser, zum anderen notwenige Investitionen in die Zukunft – Stichwort Digitalisierung. Die trifft gerade ertragsschwache Häuser, denen weniger Mittel zur Verfügung stehen, um in die Zukunft zu investieren. Neben den Kosten für Digitalisierung stehen auch Investitionen in teilweise veraltete IT -Strukturen an. Dann müssen wir uns mit dem Thema Regulatorik weiter auseinandersetzen und das in einem globalen Kontext. Die Finanzmarktkrise und die Pleite von Lehmann Brothers 2008 hat erhebliche Auswirkungen gehabt, denen regulatorisch gegengensteuert wurde. Wir müssen jetzt auf den deutschen und den europäischen Finanzmarkt schauen, aber auch sehr genau darauf achten, was in anderen Ländern passiert. Da wäre es auch sinnvoll jetzt zu überprüfen, welche Maßnahmen sinnvoll waren und welche ihr Ziel verfehlen und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Institute belasten.
Unterschätzen die Bankhäuser die bevorstehenden Herausforderungen?
Nein, das glaube ich nicht. Wir werden einen steigenden Kostendruck sehen und das wird zu weiteren Zusammenschlüssen führen – insbesondere bei Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Wir haben in Deutschland durch das Drei-Säulen-Modell einen sehr kleinteiligen Markt, wo Zusammenschlüsse der Landesbanken, von Bausparkassen und auch von einzelnen kleinen Instituten Sinn ergibt. Es macht zum Beispiel aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn, dass wir so viele Landesbanken haben. Der öffentliche Sektor, das heißt der Deutsche Sparkassen- und Giroverband (DSGV) und die öffentlichen Träger, sollten sich ein Beispiel nehmen an der DZ Bank. Die hat es schon vor Jahren geschafft, ihre Zentralbanken zusammenzuschließen. Damit sollte aus meiner Sicht ein Rückzug der Politik aus dem Bankgeschäft einhergehen – auch wenn das einige Politiker, die in der Verantwortung sind, gerne anders sehen.
Wir werden einen steigenden Kostendruck sehen und das wird zu weiteren Zusammenschlüssen führen.
Bislang hat Konsolidierung von Landesbanken hauptsächlich durch „Schieflage“ stattgefunden.
Die Landesbank Rheinland-Pfalz wurde nicht aufgrund eines Krisenszenarios an die Landesbank Baden-Württemberg verkauft, sondern auf der Grundlage vorausschauender Politik. Rudolf Scharping und Kurt Beck haben das vor der Welle angestoßen. Aber dabei reden wir über das Kerngeschäft Landesbank, nicht über die Förderbanken. Das Land NRW zum Beispiel hat mit der NRW.Bank eine starke und gut funktionierende Förderbank und es ist richtig, dass diese in öffentlicher Hand bleibt.
Apropos Krise: Wir sind wieder in einer Krise, inzwischen schon seit einem Jahr. Wirkt sich Corona jetzt wie ein Brandbeschleuniger aus?
Das kann man so sehen. Auf jeden Fall ist Corona ein Brennglas auf alle politischen Versäumnisse der letzten Jahre. Die Pandemie macht uns deutlich, dass wir im Bereich Digitalisierung bei Weitem nicht da sind, wo wir sein müssten – auch im internationalen Wettbewerb. Corona zeigt uns alle Versäumnisse im Gesundheitswesen auf. Wie lange haben wir gebraucht, bis wir notwendige Schutzausrüstung zur Verfügung hatten? Wir mussten einsehen, dass wir nicht vorbereitet sind auf solche Pandemien, obwohl solche in einer globalisierten Welt ja vorprogrammiert sind. Aber wir waren unvorbereitet. Wir mussten erleben, wie kompliziert das Bildungswesen organisiert ist und wie schwerfällig sich die Digitalisierung von Schulen und Hochschulen gestaltet.
Corona hat uns die Versäumnisse der Vergangenheit gezeigt.
Noch spüren die Menschen nicht das ganze Ausmaß der Krise. Natürlich spüren wir den Lockdown. Wir spüren die Versäumnisse, die ich eben schon erwähnt habe. Wir bringen die Gesellschaft, gerade was Freiheitsgrade angeht, an die Grenze der Belastbarkeit. Es gibt jedoch noch keine große Pleitewelle. Es gibt auch noch keinen deutlich sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Aktuell werden die Folgen von der Bundesregierung durch Ausnutzung der Insolvenzregeln und durch Kurzarbeitergeld auf der Zeitschiene nur nach hinten verlagert. Nur, das Brennglas wird spätestens in ein paar Monaten sehr deutlich auf diese Probleme kommen. Und dann, glaube ich, kommen enorme gesellschaftliche Herausforderungen auf uns zu. Dann merken die Menschen plötzlich: Es geht um meinen Arbeitsplatz, um meinen Geldbeutel. Gerade die jüngeren Generationen müssen die horrende Verschuldung der Staatsfinanzen abtragen. Nach Ostern werden wir eine ganz andere Diskussionskultur erleben, davon bin ich fest von überzeugt.
In den Straßen kommt die Krise doch schon an. In deutschen Innenstädten schließen die ersten Ladenlokale. Stemmen wir das noch?
Ja, das wird eine erhebliche Herausforderung für die deutschen Innenstädte. Der Lebensmitteleinzelhandel hat mit der Notversorgung des Menschen Großartiges geleistet, aber der gesamte Non-Food-Bereich steht mit dem Rücken zur Wand. Dazu gehören Hotellerie, Gastronomie oder Schausteller-Gewerbe, um nur einige zu nennen. Start-ups werden Probleme mit der Refinanzierung bekommen. Oder der Bereich Tourismus: In den touristisch stark frequentierten Regionen wird Corona zu erheblichen Schwierigkeiten führen. Und ja, da werden viele auf der Strecke bleiben. Zu Beginn der Corona-Krise sagten die Minister Scholz und Altmaier, es werde kein Arbeitsplatz verloren gehen und es werde kein Unternehmen, das unverschuldet durch Corona in Mitleidenschaft gezogen worden ist, Pleite gehen. Das kann man heute wirklich ins Märchenbuch packen.
Die Herausforderungen werden enorm sein, auch für unsere soziale Marktwirtschaft.
Wir müssen darauf achten, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft gewährleistet bleibt. Es gibt viele, viele Geschäftsbereiche und Branchen die sehr stark leiden. Es gibt natürlich auch andere, die von der Krise profitieren – das muss man in diesem Zusammenhang auch sehen. Und das ist eine Herausforderung, wo die Politik gefordert sein wird. Auf die Frage, ob wird das stemmen können: Da bin ich sehr zuversichtlich. Aber über die Wege und Maßnahmen kann man sich natürlich streiten.
Stemmen das dann auch die Banken?
Eine Bankenkrise sehe ich definitiv nicht.
Wenn jetzt eine Pleitewelle kommt, die auch auf die Banken durchschlägt, geraten wir dann wieder in eine Bankenkrise?
Nein, das sehe ich nicht so. Ich sehe das deutsche Finanzsystem stabiler denn je. Die Banken sind gut kapitalisiert. Was allerdings passieren wird, das hatte ich anfangs schon erwähnt, ist ein erhöhter Konsolidierungsdruck auf einzelne Häuser. Das betrifft schwerpunktmäßig Sparkassen und Volksbanken, denn das sind gerade die Banken, die sehr stark bei den kleineren und mittleren Unternehmen als Finanzierer unterwegs sind. Dort wird natürlich diese Krise zu weiteren Konsolidierungen führen. Eine Bankenkrise sehe ich definitiv nicht. Aber: Banking in Deutschland ist – was Arbeitsplätze angeht – zukünftig keine wachsende Branche. Die Mitarbeiterzahlen im Banking bleiben in den nächsten fünf Jahren leider weiter auf der Strecke. „Leider“ sage ich ganz bewusst, aber das ist der Gesamtsituation geschuldet. Meiner Einschätzung nach werden noch Zehntausende gehen müssen, wenn man alle Banken in Deutschland und auch die Versicherungen zusammenfasst. Wo ich Herausforderungen sehe, ist auf der europäischen Ebene. Wir werden sicherlich wieder eine Diskussion um den Euro bekommen und über europäische Länderstabilität. Einzelne Volkswirtschaften haben hoffende Schulden auf sich geladen. Nehmen wir als Beispiel Italien: Das Land war schon vor der Krise stark verschuldet und wird jetzt zunehmend zusätzlich belastest. Die Themen Länderstabilität, Lastenverteilung und Risikoverteilung in Europa werden stärker in den Fokus rücken. Das wird eine politische Herausforderung für Europa werden, für Stabilität im Euroraum zu sorgen. Eine Bankenkrise sehe ich definitiv nicht. Aber: Banking in Deutschland ist – was Arbeitsplätze angeht – zukünftig keine wachsende Branche. Die Mitarbeiterzahlen im Banking bleiben in den nächsten fünf Jahren leider weiter auf der Strecke. „Leider“ sage ich ganz bewusst, aber das ist der Gesamtsituation geschuldet. Meiner Einschätzung nach werden noch Zehntausende gehen müssen, wenn man alle Banken in Deutschland und auch die Versicherungen zusammenfasst. Wo ich Herausforderungen sehe, ist auf der europäischen Ebene. Wir werden sicherlich wieder eine Diskussion um den Euro bekommen und über europäische Länderstabilität. Einzelne Volkswirtschaften haben hoffende Schulden auf sich geladen. Nehmen wir als Beispiel Italien: Das Land war schon vor der Krise stark verschuldet und wird jetzt zunehmend zusätzlich belastest. Die Themen Länderstabilität, Lastenverteilung und Risikoverteilung in Europa werden stärker in den Fokus rücken. Das wird eine politische Herausforderung für Europa werden, für Stabilität im Euroraum zu sorgen.
Müssten wir mit Blick auf Europa nicht auch von europäischen Bankenzusammenschlüssen reden? Wir reden hier immer von einer Fusion der beiden großen Institute Deutsche Bank und Commerzbank, aber wäre nicht ein großes europäisches Institut – mit deutscher Beteiligung – eine sinnvolle Perspektive?
Ich habe mich vor zwei Jahren sehr stark für eine Prüfung eins Zusammenschlusses von Deutscher Bank und Commerzbank ausgesprochen. Es gibt gute Argumente dafür, warum dieser Schritt für den Standort Deutschland eine Perspektive wäre – aber nicht als Endstation, sondern als Zwischenschritt, um dann aus dieser Stärke heraus eine europäische Konsolidierung voranzubringen. Am Ende spielt Europa eine große Rolle, in dem Punkt stimme ich Ihnen zu. Wir haben ja schon eine solche Cross-Border-Fusion erlebt – bei der Unicredit mit der HypoVereinsbank. Ich bin der festen Überzeugung, dass sowohl die Deutsche Bank als auch die Commerzbank am Ende des Tages in eine größere Partnerschaft einsteigen werden. Aber aus deutscher Sicht wäre mir natürlich die starke deutsche Rolle lieber, als übernommen zu werden.
Ich bin da sehr positiv gestimmt.
Herr Christ, Sie haben einmal gesagt: „Ein ruinierten Ruf, sei es durch absurde Boni oder Abfindungen in Millionenhöhe, sei es durch krasse unternehmerische Fehlentscheidungen, zahlt immer auch auf ein gesamtgesellschaftliches Negativkonto ein.“ Jetzt waren sie bei der ERGO, bei HCI, bei der Postbank. Haben Sie da nicht auch auf Boni gesetzt?
Die Einkommen in den Unternehmen, für die ich tätig war, wie dem Deutsche Bank Konzern, der Postbank, der Münchener Rück und ERGO sind so gestaltet, dass ihr Erfolg in der Langfristkomponente liegt. Und ich habe mich ja nie gegen Boni ausgesprochen. Ich bin ein starker Befürworter von Boni, denn Leistung muss sich lohnen. Und wenn Vorstände oder Manager einen guten Job machen, genau wie das bei Inhaberunternehmern der Fall ist, dann sollen sie angemessen an diesem Erfolg partizipieren. Vorausgesetzt, der ist nachhaltig. Ich habe ein Problem damit, wenn hohe Boni bezahlt werden für Minderleistung oder für fehlende Wertschöpfung. Ich habe auch ein Problem damit, wenn für Fehlleistungen hohe Abfindungen bezahlt werden. Ich bin ganz klar dem Leistungsgedanken verhaftet. Wenn es der Organisation dient, wenn es den Inhabern beziehungsweise Aktionären dient, wenn es Stabilität des Institutes und der Arbeitsplätze bedeutet, dann sollen auch Vorstände anständig verdienen und auch bonifiziert werden. Aber nicht für mangelnde Leistung. Und deswegen sage ich immer: Ein Bonussystem kann auch durch ein Malussystem ergänzt werden, wenn es mal nicht so rund läuft.
Natürlich sehen wir neue Wettbewerber, auch im Bereich der Fintechs.
Angeblich soll Bill Gates gesagt haben: „Banking is necessary, but banks are not.” Heute bietet Amazon seinen Händlern und Händlerinnen Warenkredite an, Apple Pay und Google Pay konkurrieren im Zahlungsverkehr. Wir sehen Goldman Sachs mit einem Girokonto für Google. Also es tut sich jetzt tatsächlich einiges in die Richtung. War Ihr Ausstieg aus der Branche gut gewählt?
Ich stelle hier mitnichten den Abgesang der Bankenindustrie in den Raum – ganz im Gegenteil, ich sehe eine notwendige und seit Jahren überfällige Konsolidierung, die unsere Banken gut meistern werden. Wie bereits gesagt, ich halte das Finanzsystem für stärker denn je. In zehn Jahren werden wir weniger Institute haben, aber es werden stärkere sein. Ich bin da sehr positiv gestimmt. Es werden weniger Mitarbeiter sein, klar. Aber das hängt auch mit der ganzen Kostenreduktion und Digitalisierung der Prozesse zusammen. Also ich bin ein großer Fan und Unterstützer und auch positiv nach vorne denkender Vertreter der Finanzindustrie, zu der ich ja noch systemisch dazugehöre – schließlich bin ich zum Beispiel Aufsichtsrat der ERGO Direkt Versicherung. Aber wir sehen auch große Pleiten, wie zum Beispiel Wirecard. Da dachten wir, Wirecard wirft die Commerzbank aus dem DAX und es entsteht ein neuer Champion. Heute wissen wir, dass das alles auf betrügerischen Füßen stand. Wir erleben auch Häuser wie zum Beispiel N26, die ja noch weit weg davon sind, profitabel zu sein. Und wir erleben auch die großen deutschen Banken, die selbst ihre eigenen Kraftanstrengungen unternehmen und Kooperationen mit Fintechs oder mit großen Plattformen eingehen, um damit neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Was den Zeitpunkt anbetrifft, wegzugehen: Ich bin ja nicht deswegen weggegangen. Ich bin eine der wenigen Personen, die in Deutschland das Glück hatten, sowohl für Bausparkassen und Banken als auch für Versicherungen in Führungspositionen zu arbeiten. Ich behaupte, dass ich einen ziemlich tiefen und breiten Erfahrungshorizont habe. Diese Arbeit hat mir immer Spaß gemacht und es war auch immer herausfordernd. Und ich bin nicht weggegangen, weil ich jetzt keine Perspektive der Branche sehe. Ich wollte meine dreißigjährige Kompetenz und meinen Sachverstand sowohl unternehmerisch als jetzt auch politisch einbringen. Und das war eine sehr persönliche Entscheidung.