Die Wiederentdeckung der Heuristiken

Die Ökonomen führen einen schwierigen Kampf. Die Wirtschaftswissenschaften haben sich in den letzten 30 Jahren mit statistischen Methoden in allen Bereichen der Finanzdienstleistung etabliert. Wir versuchen mit Modellen die Zukunft vorherzusagen. Der Nutzen einer Theorie lässt sich einfach messen: Sie muss sich in der Realität bewähren. Ökonomische Theorien versagen dabei in vielen Situationen. Sie haben…


Die Ökonomen führen einen schwierigen Kampf. Die Wirtschaftswissenschaften haben sich in den letzten 30 Jahren mit statistischen Methoden in allen Bereichen der Finanzdienstleistung etabliert. Wir versuchen mit Modellen die Zukunft vorherzusagen.

Der Nutzen einer Theorie lässt sich einfach messen: Sie muss sich in der Realität bewähren. Ökonomische Theorien versagen dabei in vielen Situationen. Sie haben die Finanzkrisen nicht vorhergesagt. Operationelle Risiken entziehen sich exakten Prognosen. Dennoch bestimmen Ausfallrisiken, Portfoliooptimierungen und Simulationen mittlerweile den Arbeitsalltag in Banken. Und wir werden das Gefühl nicht los: Die nächste Krise kommt genauso plötzlich wie die letzte.
In der Wissenschaft gilt eine Theorie als widerlegt, wenn eine Hypothese falsifiziert wird. In der Praxis ist das anders; so lange kein besseres Modell vorhanden ist, nehmen wir das, welches unseren Hoffnungen am ehesten entspricht. Und die Modelle passen zu unserem Wunschdenken: mit genügend Daten und analytischer Kapazität versprechen sie Sicherheit. Zahlen bieten eine gute Rechtfertigung, wenn wir bei der Entscheidung Bauchschmerzen haben. Die Statistik ersetzt den gesunden Menschenverstand. Jetzt weisen Psychologen und Entscheidungstheoretiker immer stärker darauf hin, dass Grundlagen der Modelle oft nicht erfüllt sind. Der wichtigste Punkt ist der Unterschied zwischen Risiko und Unwissenheit.

Was wir von Betrügern lernen können

Betrug ist meist simpel: der Täter muss nur einen Irrtum über seine Bonität oder seine Identität erzeugen. Scheitert er, versucht er es mit veränderten Daten noch einmal.  Die Forderung der Analytiker ist ebenso einfach: „Mehr Daten in besserer Qualität!“ Dabei übersehen sie, dass es sich bei Betrug nicht um ein Risiko handelt, sondern um Unwissenheit. Ein Risiko ist als Eventualität definiert, die mit einer Wahrscheinlichkeit eintritt. Die zukünftige Zahlungsfähigkeit eines Kunden ist ein Risiko. Wir wissen nicht, welche Ereignisse die Kapitaldienstfähigkeit des Schuldners beeinflussen. Arbeitslosigkeit oder Tod sind für einzelne Personen nicht kalkulierbar. Aber sie können für Gruppen prognostiziert werden.
Die Zahlungswilligkeit passt nicht in dieses Schema. Der Irrtum, der für Betrug notwendig ist, muss zu Beginn der Tat erzeugt werden. Ist der Kunde ehrlich? Wir wissen es nicht. Noch dazu nutzen Betrüger die Schwächen unserer Modelle aus. Betrug entsteht nicht zufällig. Daten werden absichtlich und gezielt verfälscht. Mit Maßnahmen warten, bis ausreichend Schadensfälle vorliegen? Für Banken meist inakzeptabel. Zu guter letzt ändern Täter ihr Verhalten, wenn ein Vorgehen nicht funktioniert. Damit sind die Grundpfeiler der Statistik angesägt: Die Daten sind nicht wahr, die Mengen reichen nicht, die Modelle sind nicht stabil.  Natürlich gibt es Ausnahmen. Statistische Modelle funktionieren in kontrollierten Umgebungen mit kleinen Beträgen und hohen Stückzahlen, etwa bei Konten- und Kreditkartentransaktionen. In den meisten Szenarien helfen diese Verfahren aber nicht.

Der Einsatz der Heuristiken

Der Psychologe Gerd Gigerenzer schlägt bei Entscheidungen unter Unwissenheit den Einsatz von Heuristiken vor. Eine Heuristik bezeichnet die Kunst, mit eingeschränkten Informationen zu guten Lösungen zu kommen. Wir alle benutzen ständig Heuristiken, um unseren Alltag zu bewerkstelligen. Ohne Wissen um Erntezeit, Lieferwege und Lagerbedingungen können wir sofort sagen, ob die Avocado schon ausreichend reif ist: Ein kleiner Fingerdruck reicht. Das funktioniert auch in anderen Situationen. Jeder erfahrene Sachbearbeiter kennt das schlechte Bauchgefühl bei der Bearbeitung eines Antrags. „Den kenn‘ ich doch!“ – Die  Daten wurden in einem anderen Fall bereits benutzt.  „Das sieht komisch aus!“ – Antragsdaten sind unplausibel. „Das hatten wir doch schon mal!“ – Ein bekanntes Muster tritt auf. Die drei bekannten Klassen von Heuristiken in der Betrugsprävention. Für jede Klasse werden einfache Regeln eingesetzt. Die Ergebnisse prognostizieren keinen Betrug. Sie zeigen eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Unwissenheit besteht: Ist der Kunde echt? Liegen Fehler in den Daten vor? Die Qualität der Regeln lässt sich analytisch prüfen. Meist ist das aber gar nicht notwendig. Sie sind so einfach, dass die Notwendigkeit jedem klar ist. Gleiche Festnetznummer bei unterschiedlicher Adresse? Sollte man sich mal anschauen.Einen Markt für heuristische Systeme gibt es: Die Auskunftei Bürgel bringt in 2015 zwei auf Erfahrungsregeln basierende Produkte auf den Markt.

Fazit

Bleibt die Frage, ob Heuristiken auch außerhalb der Betrugsprävention einsetzbar sind. Unwissenheit gibt es auch an anderen Stellen. Die einfache Regel, dass Risiko, Anlagedauer und Verfügbarkeit in einem Spannungsfeld stehen, eröffnet einen spannenden Blickwinkel auf finanzielle Massenvernichtungswaffen. Für die Vereinfachung der immer komplexeren Systeme muss ein Umdenken stattfinden.
Vielleicht nach dem Eintritt der nächsten nichtvorhersehbaren Krise.

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