Auf den neuen Präsidenten wartet einige Arbeit. Die Staatsfinanzen Frankreichs sind strapaziert. Die Schulden der öffentlichen Hand sind gemessen an der Wirtschaftsleistung zu hoch und machen fast 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes aus. Außerdem wächst Frankreichs Wirtschaft zu langsam. Statt der 1 Prozent für den Durchschnitt seit 2011 sollten es eher 1,5 bis 2 Prozent sein, zumal Frankreichs Bevölkerung pro Jahr etwa 0,5 Prozent zunimmt. Schnelleres Wirtschaftswachstum würde helfen, die hohe Arbeitslosenquote von über 9 Prozent (bei Jugendlichen unter 25 Jahren sind es sogar 23 Prozent) zu senken. Zunächst aber muss man abwarten, ob Emmanuel Macron nach den Wahlen zur Nationalversammlung am 11. und 18. Juni eine mehrheitsfähige Koalition schmieden kann. Da er sich sowohl bei den gemäßigten Linken als auch im bürgerlichen Lager innerhalb kurzer Zeit Anerkennung verschafft hat (sowohl sein Amtsvorgänger Hollande als auch der bürgerliche Kandidat Fillon empfahlen ihn für die Stichwahl), sind entsprechende Erwartungen begründet. Wenn er den Rückenwind aus der Stichwahl nutzen kann, gerät nach ersten Umfragen sogar eine parlamentarische Mehrheit in Reichweite. Dagegen sprechen unseres Erachtens die relativ geringe Wahlbeteiligung von 75 Prozent an der Stichwahl und die hohe Quote ungültiger Voten von mehr als 10 Prozent der abgegebenen Stimmzettel. Macron wurde keineswegs von einer Woge der Sympathie ins Amt getragen, sondern galt vielen Wählern als geringeres Übel.
Kein Erfolg auf ganzer Linie
Aus der europäischen Perspektive betrachtet ist die Wahl Macrons zwar erfreulich, aber keineswegs ein voller Erfolg. Sie vollzog sich vor dem Niedergang der einstmals dominierenden Sozialisten und der Republikaner, die sich vormals in der Präsidentschaft des Landes abgewechselt haben. Parallelen zu Österreich sind unverkennbar. Zudem sind im französischen Wahlkampf anti-deutsche Ressentiments salonfähig geworden. Nicht nur die Kandidaten beider Extreme, Mélenchon und Le Pen, schlugen in diese Kerbe. Auch Macron selbst kritisierte etwa den deutschen Überschuss im Außenhandel mit Frankreich (2016 waren es 35 Milliarden Euro).
Engere Kooperationen in Europa sind unumgänglich
Es gab Jahre, in denen galt das deutsch-französische Tandem als Schrittmacher der ganzen EU. Eine Revitalisierung dieser Symbiose dürfte nun schwerfallen. Dabei wäre eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden größten Volkswirtschaften des Euroraums so nötig wie eh und je. Ein Dauerbrenner bleibt die Sicherung des Euro. Monsieur Macron gilt als bekennender Anhänger von gemeinschaftlichen Anleihen der Eurostaaten, sogenannten Euro-Bonds. Frau Merkel hat solche Euro-Bonds nicht nur für die Zeit ihrer Kanzlerschaft ausgeschlossen, sondern gleich solange sie lebt. Vielleicht ist der letzte Zusatz etwas pathetisch, aber Angela Merkel weiß, dass man mit einer noch engeren Verflechtung der Fiskalpolitik auf europäischer Ebene auf absehbare Zeit in Deutschland beim stimmberechtigten Bürger nicht punkten kann. Die Erinnerung an die Schuldenkrise der Jahre 2010 bis 2012 ist noch frisch, der Fall Griechenland noch nicht gelöst. Zudem muss Merkel selbst erst einmal ihre Bundestagswahlen im September gewinnen. Alles andere dürfte für sie demgegenüber nachrangig sein.
Andererseits führt an einer engeren Kooperation in Europa kein Weg vorbei. Das ist das Axiom der Nachkriegspolitik auf dem Alten Kontinent und wird uns eindrücklich durch die Haltung Russlands und den Machtwechsel in den USA ins Gedächtnis zurückgerufen. Wir haben daher in Deutschland allen Anlass, dem neuen Präsidenten Frankreichs viel Erfolg bei seiner Reformpolitik zu wünschen, damit er als gleichberechtigter Partner in Berlin und vor allem in Paris selbst wahrgenommen wird. Die demonstrative Distanzierung Macrons von Merkel, mit der er seinerseits auf entsprechende Vorwürfe seiner Gegnerin Le Pen reagierte, er werde eine Art „Vizekanzler“ von Merkel sein, zeigt wie heikel die deutsch-französische Balance in schwierigen Zeiten sein kann. Aber man sollte auch einen wichtigen Trumpf Macrons nicht unterschätzen. Im Unterschied zu Hollande tritt Macron sein Amt in einer Phase der wirtschaftlichen Erholung an. Das könnte ihm Freiheiten auch für unpopuläre Reformen etwa am Arbeitsmarkt verschaffen, denn unter günstigen Umständen könnten Erfolge hier schneller sichtbar werden.
Der Markt für Staatsanleihen hat bereits Witterung aufgenommen. Die Spreads für französische Staatsanleihen gegenüber Bundesanleihen, die im Vorfeld der Wahl und im Sog der Trump-Wahl in den USA zunächst deutlich zugelegt hatten, sind in den letzten Tagen deutlich zurückgegangen und liegen für 10-jährige Laufzeiten jetzt nur noch am oberen Rand der Handelsspanne der Jahre davor. Für Spanien zeigt sich ein ähnliches Muster. Für Italien und Portugal gilt dies noch nicht. Vor allem das anhaltende Misstrauen gegenüber Italien, das mit seinen Wahlen im kommenden Frühjahr in den Fokus der Märkte rücken dürfte, unterstreicht die Dimension der Aufgabe, der sich Merkel und Macron zusammen mit ihren europäischen Partnern gegenübersehen.
Wir haben Anlass, uns für Deutschland einen neuen Anlauf zur vertieften Integration der Währungsunion und ein Ende der Furcht vor mehr Europa zu wünschen. Grundlos ist die Furcht nicht. Man wird ihr mit einer höheren Glaubwürdigkeit politischer Abkommen mit finanziellem Bezug begegnen müssen. Ein französischer Präsident mit dem unverbrauchten Charme der Jugend und eine krisengestählte Bundeskanzlerin, die alle Winkelzüge des politischen Geschäfts kennt, sind vielleicht nicht das schlechteste Duo für einen neuen Anfang.