Normalität an den Finanzmärkten, das heißt die Risiken in den Kursen werden individueller bewertet.
Viele Leute denken, ein starker Motor sei das Wichtigste an einem Auto, oder ein sparsamer Motor, oder 16 Luftsäcke, oder eine ausgeklügelte Abgasreinigungsanlage, oder beleuchtete und heizbare Cupholder… um dann festzustellen: ohne Luft geht gar nix. Sind die Reifen platt, hilft weder Frischluft aus dem Auspuff noch Explosionsluft aus dem Airbag. Eine große Tankstellenkette verlangt ab heute an rund 120 Stationen einen Euro für Reifenluft. Viele Autofahrer begrüßen das sogar, weil sie nun erstmals in der rund 125jährigen Geschichte des Automobils funktionierende Pustemaschinen vorfinden. Ist Reifenluft damit ein marktfähiges Asset? Kann ich mit Reifenluft handeln? Lohnt es sich, im derzeitigen Niedrigzinsumfeld „Long Luft“ zu gehen? Wie viel heiße Luft steckt in dem 30-Prozent-Anstieg des DAX seit Juni? Wird es einen Hot Air Naked Short Selling Ban geben?
Meiner Meinung nach erfüllt Reifenluft als Geldanlage eher die Charakteristika von Gold: sie wirft keine Zinsen ab, sie zahlt keine Dividende, eine Kursprognose ist unsicher, aber im Krisenfall lässt sich ein Handvorrat an Reifenluft sicherlich vergolden. Wir befinden uns jedoch nicht im Krisenfall, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Szenario eintritt, nimmt zusehends ab. Wir befinden uns auf dem Weg zurück in die Normalität, auch wenn wohl nur die Älteren unter uns noch eine blasse Ahnung davon besitzen, was „Normalität an den Finanzmärkten“ bedeutet. Abstrakt formuliert bedeutet „Normalität an den Finanzmärkten“ wohl, dass die Risiken in den Kursen individueller bewertet werden. Bis letzten Sommer war es ja so, dass Systemrisiken und Weltuntergangsszenarien die individuelle Anlageentscheidung stark beeinflusst wenn nicht gar bestimmt haben. Das baut sich jetzt zurück. Wir nennen das den Prozess der Risikonormalisierung, ich hatte das bei verschiedener Gelegenheit bereits angedeutet…
Nicht zwingend notwendig, aber sicherlich förderlich für den Prozess der Risikonormalisierung, ist eine Verbesserung der Konjunkturaussichten. All diejenigen Warmluftatmer, welche gerne die Zukunft erahnen wollen, kommen diesbezüglich in dieser Woche voll auf ihre Kosten: Wir folgen in den folgenden Tagen in lockerer Folge folgenden Stimmungsumfragen: ZEW, INSEE, PMIs für das Verarbeitende Gewerbe, PMIs für den Dienstleistungssektor und Ifo. Ich denke, das sollte erst mal ausreichen, um sich ein Bild über den deutschen und europäischen Konjunkturausblick machen zu können. Die Chancen stehen gut, dass sämtliche Umfragen eine Stimmungsverbesserung und damit neue Wachstumshoffnungen signalisieren werden. Damit sollten diese Umfragen insgesamt auch eine stärkere Wirkung auf das Marktgeschehen haben als die aufgefrischten und wahrscheinlich nach unten revidierten Wachstumsprojektionen, welche der IWF am Mittwoch veröffentlichen wird.
Von noch stärkerer Marktrelevanz dürfte indes die Sitzung der Bank of Japan am heutigen Montag und morgigen Dienstag sein. Allgemein wird erwartet, dass die Notenbank den Reifen dieses Mal ganz fest aufpumpen will: Eine Anhebung des Inflationsziels von 1% auf 2%, unlimitierte Anleihenkäufe und eine Abschaffung der Zinsuntergrenze von 0,1% auf Überschussreserven sind Optionen, welche im Vorfeld diskutiert wurden. Jenseits kurzfristiger Gegenbewegungen unterstützt diese Form der Geldpolitik die Vermutung eines schwächeren Yen in den kommenden Wochen und Monaten.
Die Woche beginnt jedoch ruhig. In den USA ist Feiertag, der Kalender weist als Highlight lediglich das EWU Finanzministertreffen aus (eine Entscheidung über ein Rettungspaket zu Zypern ist für heute nahezu ausgeschlossen). In Anbetracht der ereignisreichen Folgetage würde ich eigentlich sogar die Argumentation mittragen, dass alles, was heute an den Märkten passiert, mehr oder weniger heiße Luft ist – aber das tue ich nicht, weil das kostet neuerdings ja ‚nen Euro…
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