Die Parität des Euros zum US-Dollar wurde das letzte Mal im November 2002 erreicht. Kurz zuvor tauchte die zu diesem Zeitpunkt noch junge Gemeinschaftswährung temporär knapp unter die Marke von 0,90 US-Dollar. Dieses Muster hat sich seitdem nicht wiederholt.
Im Gegenteil: Der Dollarkurs des Euros hat im Laufe der Zeit geschwankt, manchmal bis auf 1,60 Dollar, lag aber immer über dem symbolisch wichtigen Wert von 1 US-Dollar. Bis jetzt, denn Mitte Juli 2022 sackte das Währungspaar im Handelsverlauf kurzfristig unter die Paritätsmarke. Seitdem oszilliert der meistgehandelte Cross um die Marke von 1,01. Also sind Euro und US-Dollar in etwa gleich stark.
Die meisten modernen Analysen von Wechselkursen beruhen auf dem Klassiker „Expectations and Exchange Rate Dynamics“ (Erwartungen und Wechselkursdynamik) des Wirtschaftswissenschaftlers Rüdiger Dornbusch vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Dornbusch zufolge werden die Wechselkurse langfristig durch die Fundamentaldaten bestimmt. Demnach tendiert die Währung eines Landes also dazu, sich auf dem Niveau einzupendeln, auf dem seine Industrie auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig ist.
Der Einfluss geldpolitischer Manöver
Jedoch kann die Geldpolitik eine Währung vorübergehend von diesem langfristigen Wert wegbewegen. Erhöht beispielsweise die Federal Reserve (Fed) die Fed Funds Target Range, während die Europäische Zentralbank (EZB) dies nicht tut, passiert Folgendes: Die höheren Renditen auf Dollaranlagen werden Investitionen in die Vereinigten Staaten anziehen und den Wert des Dollars (in Relation zum Euro) in die Höhe treiben.
In der Regel rechnen Investoren in einem solchen Szenario aber damit, dass der Dollar irgendwann wieder zu seinem langfristigen Wert zurückkehrt. Die höheren Renditen auf Dollar-Anlagen werden dabei durch die erwarteten Kapitalverluste aus künftigen Dollar-Rückgängen ausgeglichen.
Trifft dies auf die geldpolitischen Manöver in der ersten Jahreshälfte 2022 beiderseits des Atlantiks zu? Auf den ersten Blick ja. Denn die Fed hat ihre Fed Funds Target Range in diesem Jahr wiederholt erhöht, während die EZB dies 2022 bislang erst einmal getan hat, verwässert durch eine gewohnt zögerliche Rhetorik. Allerdings ist das schon einmal vorgekommen.
Von 2016 bis 2019 hat die Fed die Zinssätze stärker angehoben, als sie es bislang in diesem Jahr getan hat. Die US-Zentralbank befürchtete eine Überhitzung der Wirtschaft, während die EZB keine derartigen Maßnahmen ergriff. Aber ein Einbruch des Euro vom Ausmaß der Talfahrt im Jahr 2022 blieb damals aus.
Lektion des Pandemie-Schocks
Auf den zweiten Blick ist die signifikante Talfahrt des Euros jedoch das Ergebnis einer tiefergehenden wirtschaftlichen Malaise der Eurozone. Vereinfacht gesagt, wurden der Wohlstand Deutschlands und Europas in den vergangenen Jahren auf zwei Säulen aufgebaut. Zum einen auf dem billigen Erdgas aus Russland und zum anderen den Exporten von Industriegütern nach China, wenn auch in geringerem Maße.
Eine dieser Säulen ist mit dem Ukraine-Krieg eingebrochen. Die andere Säule bröckelt jedoch ebenso, da die chinesische Wirtschaft ins Straucheln geraten ist. Das ist nicht zuletzt auf eine unberechenbare COVID-Politik wie auch auf die schwer kalkulierbaren regulatorischen Eingriffe Chinas zurückzuführen. Somit ist eine erhebliche Abwärtskorrektur in der Einschätzung der Investoren über die europäische Wettbewerbsfähigkeit und damit über den vermeintlich langfristig nachhaltigen Wert der europäischen Währung am Werk – die erste große Erklärung für die jüngste Euro-Talfahrt.
Darüber hinaus ist seit dem Pandemie-Schock die Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik nicht mehr von der Hand zu weisen. Im Zuge des Ukraine-Krieges und der damit zutage getretenen Energiesicherheits-Problematik ist dieser Umstand nochmals untermauert worden – dies ist unseres Erachtens die zweite große Erklärung der aktuellen Euro-Talfahrt. Die Dimension des Energie-Schocks macht einen zweiten Europäischen Wiederaufbaufonds respektive einen Energie-Transformationsfonds notwendig, finanziert durch eine erneute Ausgabe von EU-Bonds.
Dies sollte jedoch nur ein weiterer Schritt in Richtung einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik sein. Und zwar aus folgendem Grund: In dem Moment, in dem die Finanzmärkte die fehlende Tragfähigkeit der Peripherie-Schulden der Europäischen Währungsunion (EWU) erkennen, zerfällt der EWU-Finanzmarkt erneut in seine regionalen Bestandteile.
In einem souveränen Währungsraum mit einem gemeinsamen Finanzministerium würde dieses in einem solchen Fall einschreiten und die klammen Regionen unterstützen – wie es in Deutschland etwa mit dem Solidarpakt für die neuen Bundesländer geschieht.
Wenn also der EZB eine europäische Fiskalbehörde an die Seite gestellt würde, die über hinreichende Steuermittel verfügt, um eine Stabilisierungsfunktion wahrnehmen zu können, dürfte die strukturelle Schwäche des Euros der Vergangenheit angehören. Bis dahin fungieren alle Anti-Fragmentierungs-Mechanismen der EWU-Währungshüter lediglich als Überbrückungshilfe.
Zum Ende des Jahres 2022 rechnen wir äußerst mit einem EUR/USD-Kurs von 1,05 – gegebenenfalls, es kommt zu keinem vollständigen und abrupten Energielieferstopp sowie einem zweiten Zinsschritt der EZB in Höhe von 50 Basispunkten.
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