ESG-Ratings für staatliche Emittenten werden wichtiger

ESG-Faktoren haben sich bei der Analyse von Unternehmen etabliert. Bei der Analyse staatlicher Emittenten können sie aber auch einen Mehrwert liefern. Dabei gilt es aber einige Besonderheiten zu berücksichtigen. Es zeigt sich, dass vor allem Umweltrisiken bei Anleihen von Industrieländern, wie auch von Entwicklungsländern, noch nicht ausreichend eingepreist werden.


Dr. Karsten Junius

Zahlreiche empirische Untersuchungen belegen, dass ökologische, soziale und Governance-Faktoren (ESG-Faktoren) wichtige Treiber für die Wertentwicklung von Anleihen und Aktien einzelner Unternehmen darstellen. Vor allem ermöglichen sie auch eine stärkere Transparenz und Diskussion über einzelne Investitionsentscheidungen gemäß individuellen Werten und Nachhaltigkeitszielen sowie einen aktiven Engagement-Prozess von Investoren mit dem Unternehmensmanagement. Im Gegensatz dazu werden bei Anlageentscheidungen in Staatsanleihen ESG-Faktoren bisher meist vernachlässigt. Zu Unrecht; wichtig ist aber genau zu analysieren, mit welchen Daten, Kriterien und Methoden sich ESG-Überlegungen bei Staatsanleihen am besten anwenden lassen.

Vor dieser Frage wird mittelfristig auch die Europäische Zentralbank (EZB) stehen. Diese hatte im Rahmen der Überprüfung ihres operativen geldpolitischen Rahmens im März angekündigt, langfristig ein strukturelles Anleiheportfolio halten zu wollen. In dieses Portfolio werden mittelfristig auch die in Zeiten der quantitativen Lockerung erworbenen Anleihen eingebracht werden. Durch Halten und später auch den erneuten Ankauf von Anleihen möchte sie dem Bankensystem einen Großteil der von ihm benötigten Liquidität zur Verfügung stellen. Dabei hat sie erklärt, dass sie zur Unterstützung der allgemeinen Politik der EU – ihrem sekundären Ziel – auch grüne Kriterien berücksichtigen würde. Für den vergleichsweise geringen Teil ihres Portfolios, der aktuell in Unternehmenstiteln investiert ist, mag dies einfach sein. Den überwiegenden Teil ihrer Anlagen machen allerdings Staatsanleihen aus. Für diese stecken ESG-Kriterien bislang noch in den Kinderschuhen. Im Euroraum staatliche Emittenten zu diskriminieren, mag noch zusätzliche politische Schwierigkeiten mit sich bringen. 

ESG-Faktoren und Staatsanleihen

Wir haben uns daher generell die Frage gestellt, wie ESG-Überlegungen bei Anlagen in Staatsanleihen integriert werden können. Dafür identifizieren wir Länder, die bei der Anwendung von ESG-Standards bereits weiter fortgeschritten und somit in Zeiten unerwarteter Schocks widerstandsfähiger sind. Dabei bereinigen wir die ESG-Bewertungen um das Entwicklungs- und Einkommensniveau der Länder, denn je besser die Länder in diesen Punkten abschneiden, desto höher sind in der Regel auch die dortigen ESG-Standards. Diese «einkommensbedingte Verzerrung» wird von Anlegern in Schwellenländeranleihen als mit der wichtigste Kritikpunkt in Bezug auf ESG-Faktoren genannt. In einer Studie, bei der ESG-Länderbewertungen verschiedener Datenanbieter verglichen wurden, kam die Weltbank zu dem Schluss, dass diese eine starke Korrelation unter sich aufweisen und die Bewertungen zu rund 90 Prozent auf das Pro-Kopf-Einkommen eines Landes zurückzuführen sind. Anders ausgedrückt: Je reicher und weiter entwickelt ein Land ist, desto höher sein ESG-Rating. Wer ärmer ist, kann sich weniger soziale Wohltaten oder saubere Technologien leisten.

Dies gilt auch für die Wirtschaftssektoren, auf die einzelne Länder spezialisiert sind. Ärmere Länder spezialisieren sich häufig auf die Landwirtschaft, den Bergbau und die Industrieproduktion, während sich weiter entwickelte Länder oft auf die weniger emissionsintensiven Dienstleistungen fokussieren. Entsprechend importieren sie die von ihnen verbrauchten Rohstoffe und verarbeiteten Güter. Ein ESG-Ansatz für souveräne Staaten sollten daher jene Länder ermitteln, deren ESG-Performance basierend auf ihrem Entwicklungsstand und Einkommensniveau die Erwartungen übertrifft oder hinter diesen zurückbleibt. Er sollte zeigen, wer sich besondere Mühe gibt, externe Effekte seiner Produktion zu internalisieren und wem ESG-Überlegungen weniger wichtig sind.

ESG-Risiken schwierig zu prognostieren

Unser Rahmenwerk bietet detaillierte zukunftsgerichtete Hinweise in Bezug auf diese einkommensadjustierten ESG-Faktoren. So lassen sich potenzielle Warnzeichen erkennen, die sich in den aktuellen Marktbewertungen des Länderrisikos nicht immer widerspiegeln, aber mittel- bis langfristig durchaus wichtige Auswirkungen haben könnten. Dabei gilt es zu bedenken, dass ESG-Risikofaktoren von Natur aus nicht linear sind. Sie mögen lange Zeit im Verborgenen schwelen und erst nach plötzlichen Trigger-Ereignissen in Erscheinung treten. Dabei können sie mit enormen menschlichen und finanziellen Verlusten einhergehen, die die finanziellen Mittel des betroffenen Landes übersteigen und seine Schuldentragfähigkeit erheblich beeinträchtigen können.

Folglich überrascht es nicht, dass sich Anleger in Industrieländeranleihen zunehmend bewusst werden, welch wesentlichen Einfluss ESG-Risiken auf das Anlageergebnis haben könnten. Wir haben festgestellt, dass unsere ESG-Scores gut mit den Kreditrisikoprämien von Staatsanleihen korrelieren und folglich wichtige Treiber für das Bonitätsrisiko reflektieren. Dies trifft sowohl auf Staatsanleihen aus bonitätsstarken Industrieländern als auch auf Papiere aus Staaten mit niedrigeren Kreditratings und höheren Risikoprämien zu. Zwar werden diese kurzfristig auch durch andere Faktoren beeinflusst, ein ESG-Ansatz sollte aber vor allem Orientierung für die mittlere Frist bieten. Ein zentrales Ergebnis ist dabei, dass sich unsere Bewertungen für die Kriterien Governance und Soziales offenbar gut in der Risikobewertung am Markt widerspiegeln. Bei ökologischen Belangen ist dies jedoch nicht der Fall. Es lässt sich daraus schließen, dass die Marktpreise von Industrieländeranleihen Umweltrisiken derzeit noch nicht angemessen reflektieren. Dies dürfte in Zukunft für Anleger ein vorrangiges Anliegen sein.

Was die Schwellenländer betrifft, so berücksichtigen Anleger Governance-Risiken routinemässig schon jetzt bei ihren Anlagenentscheidungen. Die Einbeziehung sozialer und ökologischer Risiken ist jedoch vergleichsweise neu. Ausschlaggebend für die Marktbewertung des Länderrisikos sind nach wie vor in erster Linie traditionelle Solvenz-Kriterien. Es lässt sich feststellen, dass die ESG-Einstufungen dabei helfen können, Länder mit ähnlichen Bonitätseinstufungen gegeneinander abzugrenzen. Da Schwellenländer vermutlich besonders stark von ESG-Risiken betroffen sein werden – insbesondere vom Klimawandel – haben ESG-Belange ein erhebliches Potenzial, Einfluss auf die Beurteilung des Kreditrisikos am Markt zu nehmen. Anleger von Staatsanleihen aufstrebender Märkte sind deshalb gut beraten, frühe Warnsignale in Form von niedrigen Bewertungen in den Bereichen Umwelt und Soziales ernst zu nehmen.

Dr. Karsten Junius

Bank J. Safra Sarasin

Dr. Karsten Junius ist seit April 2014 Chefvolkswirt und Leiter des Economic and Strategy Research der Bank J. Safra Sarasin in Zürich. Bis 2014 arbeitete er beim Internationalen Währungsfonds in Washington, D.C. Zuvor leitete er das Kapitalmarkt- und Immobilienresearch der DekaBank. Der CFA-Chartholder und Autor zahlreicher Publikationen promovierte an der Universität Kiel und sammelte Erfahrungen am Kieler Institut für Weltwirtschaft sowie bei Metzler Asset Management.

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