Rechtsruck belastet Europas Börsen 

Die Ergebnisse der Europawahl von Anfang Juni wurden vielfach mit dem Begriff „Schadensbegrenzung“ umschrieben. Doch der Zuwachs an den Rändern des Parteienspektrums ist ein Belastungsfaktor für die europäischen Börsen. Politischer Stillstand beschneidet die Zukunftsperspektiven des Alten Kontinents.


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Der große Rechtsruck ist ausgeblieben und die pro-europäische politische Mitte bleibt auf EU-Ebene intakt. Doch die Ergebnisse der Europawahl könnten die Konsensbildung der Mitgliedsländer erschweren. Das Parlament ist deutlich fragmentierter als bisher. Bereits im Wahlkampf hatten sich merkliche Differenzen bei Finanz-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik abgezeichnet. Zuwanderung wurde zum zentralen Thema des Wahlkampfes. 

Problematisch war die geringe Zustimmung der Bevölkerung für die Regierungen in Frankreich und Deutschland. In den beiden führenden Nationen der EU wurden die Regierungsparteien von der AfD beziehungsweise vom Rassemblement National gedemütigt. Der französische Präsident Emmanuel Macron setzte sogar Neuwahlen der französischen Nationalversammlung an, woraufhin die politischen Ränder Sitze hinzugewannen. Bis heute – zwei Monate nach den Wahlen – ist noch keine neue Regierung gebildet. 

Auch in den Niederlanden herrscht politischer Stillstand. Nachdem Geerd Wilders mit der rechtspopulistischen PVV im November überraschend die vorgezogenen Parlamentswahlen gewonnen hatte, benötigte er 176 Verhandlungstage, um eine neue Regierungskoalition zu bilden. Die Stabilität und politische Handlungsfähigkeit der neuen Regierung bleiben jedoch fraglich.  

Unsolide Haushaltspolitik birgt Risiken 

Diese Entwicklungen lassen die Börsen nicht kalt. Anfang Juni senkte die Ratingagentur S&P die Kreditwürdigkeit Frankreichs mit Verweis auf die politische Instabilität und das hohe Haushaltsdefizit herab. Eine Regierungsübernahme durch den Rassemblement National hätte eine Abkehr vom laufenden Reformkurs bedeutet. Die geplante Anhebung des Mindestlohns und eine Herabsetzung des Renteneintrittsalters hätte voraussichtlich zur Verschlechterung der Staatsfinanzen geführt. Der französische Aktienmarkt reagierte merklich nervös, die Kreditrisikoaufschläge sprangen an und erhöhten die Finanzierungskosten des Landes. 

Wie gefährlich eine verfehlte Haushaltspolitik auch für ein großes Industrieland werden kann, bewies Liz Truss, ehemalige Premierministerin von Großbritannien. Ihre Pläne zu Steuersenkungen ohne ausreichende Gegenfinanzierung quittierte der Kapitalmarkt 2022 mit einem heftigen Verfall des britischen Pfunds und einem starken Renditeanstieg britischer Anleihen. Die Bank of England musste die Anleihemärkte mit Notkäufen beruhigen und Liz Truss ging mit 49 Tagen als die Premierministerin mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichtsbücher ein. 

Um die anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben zu bewältigen und Populisten an beiden Rändern des politischen Spektrums Paroli zu bieten, braucht Europa Wirtschaftswachstum. Die Gefahr wächst, dass die Staatshaushalte der Eurozone durch Verteilungsgeschenke belastet werden und notwendige Investitionen hintenanstehen müssen. Um die mehrjährige Stagnation im Euroraum zu überwinden, braucht es jedoch tatkräftiges politisches Handeln. 

Für die Beschleunigung des Wachstums in der Eurozone stehen mehrere Stellschrauben zur Verfügung: eine Steigerung des Arbeitsvolumens sowie eine Erhöhung des Kapitalstocks und der Arbeitsproduktivität. Doch die Programme der extremen Flügelparteien spiegeln diese volkswirtschaftlichen Regeln nicht wider. 

Fachkräftemangel hemmt Investitionen 

Das Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsweisen zeigt erneut, wie ein Rückgang der Erwerbsbevölkerung sowie der durchschnittlichen Arbeitszeit das Arbeitsvolumen in Deutschland negativ beeinflussen wird und durch Zuwanderung ausgeglichen werden muss.  

Auch diverse aktuelle Studien des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigen, dass die „Verfügbarkeit von Arbeitskräften“ einer der wichtigsten Faktoren für Investitionsentscheidungen deutscher Unternehmen ist. Zugleich beurteilen Unternehmen das Erstarken der AfD mehrheitlich als Risiko für den Industriestandort Deutschland. Als Gründe werden insbesondere die EU-kritische Haltung der AfD und die Sorge über die Fachkräftesicherung genannt.  

Eine Metastudie des Zentrums der Europäischen Wirtschaftsforschung (ZEW) deutet darauf hin, dass Städte und Regionen, in denen rechtspopulistische Bewegungen breite Unterstützung erfahren, im Wettbewerb um in- und ausländische Fachkräfte benachteiligt sind. Dabei werden insbesondere Sicherheitsbedenken genannt. Der Fachkräftemangel droht in den kommenden Jahren also zum volkswirtschaftlichen Bremsklotz zu werden. 

Ein Weg, um die Auswirkungen des Fachkräftemangels abzumildern, ist die Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Dabei muss über gezielte Investitionen die Effektivität pro geleistete Arbeitsstunde verbessert werden. Staatliche Institutionen beziehungsweise die Politik müssen Voraussetzungen bei Infrastruktur, Rechtsrahmen und Bürokratie schaffen, die den Unternehmenssektor in seiner Innovationskraft und im technologischen Fortschrift unterstützen. Denn der internationale Wettbewerb ist hart. Analysen der OECD zeigen, wie sich die Arbeitsproduktivität in Ländern der Eurozone über die vergangenen zwei Dekaden im Vergleich zu den USA signifikant schwächer entwickelt hat. Die Sorge, dass sich diese Entwicklung verstetigt, ist durchaus begründet. So wirkt eine reform- und europafeindliche Politik mit protektionistischen Elementen und einer Abkehr vom Freihandel hemmend auf die Investitionsbereitschaft im Euroraum.  

Europa ist herausgefordert 

Europas Börsen haben sich in den vergangenen zwei Jahren gut entwickelt und der wirtschaftlichen Stagnation und rechtspopulistischen Tendenzen getrotzt. Über kürzere Zeiträume kann sich das Börsengeschehen von den wirtschaftlichen Entwicklungen entkoppeln – nicht zuletzt, weil Europas Unternehmen seit langem ihre Wachstumsmärkte auf der ganzen Welt gesucht und gefunden haben. 

Doch über längere Zeiträume haben es die europäischen Aktienmärkte schwer, sich trotz niedrigerer Bewertung von den US-Märkten abzukoppeln und relative Stärke zu zeigen. Aufgrund der genannten Probleme meiden internationale Investoren Europa weiterhin. 

Die Europawahl 2024 und ihre Folgen für die Länderparlamente zeigt, dass politische und wirtschaftliche Instabilität, reform- und europafeindliche Thesen und erodierendes Vertrauen in politische Institutionen die Stabilität der europäischen Kapitalmärkte gefährden. 

Steffen Kunkel

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