BANKINGNEWS: Frau Dr. Meinhold, wie gerne fahren Sie Fahrrad? Oder gibt es eine persönliche Hintergrundgeschichte zur Fahrradabsicherung, dem ersten eigenständigen Produkt von ver.de?
Dr. Marie-Luise Meinhold: Das Fahrrad ist mit Abstand mein liebstes Fortbewegungsmittel. Das gilt für den Alltag, aber auch für den Urlaub. Besonders die Alpenüberquerung mit dem Rad war eine tolle Erfahrung. Unser erstes Produkt, die Fahrradabsicherung ver.de BIKE, verbindet zwei Themen, die ich liebe und in denen ich große Chancen für das Klima sehe: Versicherung und Mobilität.
Wie ist der gegenwärtige Stand hinsichtlich ihrer Versicherungslizenz?
Wir sind fleißig dabei! Um die Versicherungslizenz beantragen zu können, müssen wir zuerst das notwendige Kapital gegenüber der BaFin nachweisen. Einen Teil haben wir bereits eingeworben, für den restlichen Teil haben wir eine neue Kapitalakquiserunde gestartet. Im Anschluss daran können wir direkt die Zulassung beantragen. Wenn alles nach Plan verläuft, gibt es bis Mitte 2023 nachhaltige Versicherungsprodukte von ver.de.
Wo liegen die größten Vorteile einer Genossenschaft gegenüber anderweitig organisierten Unternehmen in der Versicherungsbranche?
Wir setzen alle Aspekte der nachhaltigen Entwicklung um. Dazu gehört auch die Mitbestimmung, in der wir einen großen Mehrwert sehen. Denn so können viele Menschen ihre Ideen und ihr Know-how einbringen und das Unternehmen gemeinsam aufbauen und groß machen. Das ist ein Netzwerk an motivierten Menschen, die hinter ver.de stehen.
Hier braucht es einen mutigen First Mover, der von Tag eins zu 100 Prozent auf Nachhaltigkeit setzt.
Welche Entwicklungschancen in Richtung Nachhaltigkeit sehen Sie in der Versicherungsbranche? Ist der Bankensektor schon weiter?
Die Investitionen von heute entscheiden über die Zukunft von Morgen. Banken und Versicherungen gehören zu den größten Investoren Deutschlands. Sie entscheiden maßgebend mit, wie unsere Zukunft aussieht. Werden Erneuerbare Energien finanziert? Oder doch Kohlekraftwerke? Diesen Hebel wollen wir nutzen, für eine nachhaltige und soziale Entwicklung. Der Bankenbereich ist bereits
weiter. Hier gibt es glaubhaft sozial-ökologische Anbieter, die nachhaltige Geldanlage konsequent umsetzen. In der Versicherungsbranche sieht das anders aus: Bis jetzt gibt es keine Versicherung, die ihre Kapitalanlage transparent und für die Zukunft anlegt. Sie achten höchstens auf ESG-Alignment und Klimarisiken, aber tatsächliches Impact Investing betreiben sie nicht. Zumal die ESG-Kriterien immer wieder wegen Greenwashing in der Kritik stehen. Hier braucht es einen mutigen First Mover, der von Tag eins zu 100 Prozent auf Nachhaltigkeit setzt.
Sie beschreiben die genossenschaftliche Kapitalanlage auf der Webseite als “unser Herzstück”. Was macht sie so besonders?
Wir setzen nicht einfach auf ein paar Ausschluss- oder ESG-Kriterien, sondern nutzen das Prinzip des „Impact Investings“. Das bedeutet, dass bei jeder Investition ganz genau gemessen wird, welche Wirkung durch diese Anlage entsteht. So können wir die verschiedenen Investitionen vergleichen und die mit der bestmöglichen Wirkung für Klima, Natur und Gesellschaft wählen. Das macht richtig Spaß! Wir finanzieren zum Beispiel gezielt die ökologische Landwirtschaft, den Ausbau von Tram-Strecken, die Renaturierung von Parks oder bezahlbaren Wohnraum in Städten, wo sich die Menschen die Miete schon lange kaum mehr leisten können. Das machen wir ohne Mehraufwand für unsere Kunden.
Nach welchen Kriterien werden diese Anlagemöglichkeiten ausgewählt?
Wir bewerten Investitionen nach den sechs Aspekten der nachhaltigen Entwicklung: die ökologische, soziale und ökonomische Dimension, die Partizipation, die Transparenz und die intergenerationale Gerechtigkeit. Das bedeutet, wir prüfen einerseits, welchen positiven Beitrag die Investition in diesen Kategorien leistet. Werden dadurch Arbeitsplätze geschaffen? Wird CO2 oder Wasser eingespart? Ist die Anlage sicher, damit wir nicht mit den Beiträgen unserer Kunden spekulieren? Und andererseits beziehen wir auch mögliche negative Aspekte mit ein. Werden für das Projekt, wie etwa den Ausbau des Nahverkehrs, viele Ressourcen benötigt? Gibt es Ausschlusskriterien? Am Ende haben wir einen Überblick, welche Investition wie abschneidet. Und dann entscheiden wir und legen anschließend das Ergebnis transparent und mit Begründung auf unserer Webseite offen.
Planen Sie nach deren Erhalt ähnliche Beschränkungen für ihr Produktangebot einzuführen wie auf der Seite der Kapitalanlagen?
Die angebotenen Produkte sollen vor allem kundenfreundlich gestaltet werden. Sie sollen tatsächlich schützen und unkompliziert sein, sowohl im Abschluss als auch in den Vertragsbedingungen. Inzwischen sind manche Bedingungen so verwirrend und ausschweifend formuliert, dass uns selbst Versicherungsmakler schon gesagt haben, dass sie da den Durchblick verloren haben. Wir hingegen haben den Anspruch, leicht verständliche, kurze Bedingungen zu haben. Unsere Produkte sollen nicht nur nachhaltig, sondern auch Preis-Leistungs-technisch gut abschneiden. Diese bieten wir im privaten Bereich allen Menschen an, auch wenn unsere Community natürlich von Nachhaltigkeit geprägt ist. Im Firmenkunden-Bereich wollen wir konkrete Produkte für innovative Wirtschaftszweige wie den Erneuerbaren Energie-Sektor oder die Kreislaufwirtschaft anbieten. Hier fehlen noch gute Versicherungsprodukte.
Immer mehr Menschen wünschen sich inzwischen eine ökologisch-soziale und transparente Versicherung, bei der sie mitbestimmen können.
Die Vermittlung von Finanzberatern ist derzeit ihr zweites Standbein. Welche Rolle nimmt der persönliche Kontakt im Hinblick auf ihr Geschäftsmodell ein?
Die Vermittlung an nachhaltige Finanzberater, der ver.de CHECK, ist ein Produkt der ver.de Genossenschaft. Wir sind seit vielen Jahren in Netzwerken mit Finanzberatern aktiv, die sich aus persönlicher Überzeugung schon lange für Nachhaltigkeit einsetzen. Diese Berater haben es leider oft schwer, gefunden zu werden. Inzwischen wird alles als grün beworben. Da haben es Kunden nicht leicht, den Unterschied zu erkennen. Deshalb haben wir uns gedacht: Warum verknüpfen wir nicht Menschen, die echte Nachhaltigkeit suchen, mit Beratern, die sie wirklich leben. Darüber hinaus ist der enge Kontakt zu den Finanzberatern natürlich auch für unser Geschäftsmodell wertvoll, sowohl für den zukünftigen Vertrieb als auch bei der Frage, wie wir unsere kommenden
Produkte sinnvoll gestalten können.
Inwiefern sind die Themen Umwelt und Nachhaltigkeit aus Ihrer Sicht eine Generationenfrage?
Ich sehe in der Jugend großes Potenzial. Studien und Umfragen zeigen immer wieder, dass die jüngere Generation mehr Wert auf Nachhaltigkeit bei der Geldanlage legt. Auch der Wunsch nach einer ökologisch-sozialen Versicherung ist bei den 25- bis 35-Jährigen größer. Das ist verständlich. Diese Generation wird mit den Folgen der Klimakrise am meisten zu kämpfen haben. Trotzdem gibt es auch viele Menschen außerhalb dieser Altersgruppe, die sich für das Thema einsetzen. Es ist meiner Meinung nach wichtig, alle Menschen abzuholen. Der Kern der nachhaltigen Entwicklung ist ja, die Bedürfnisse der jetzigen Generationen zu befriedigen und dabei die Möglichkeiten für kommende Generationen nicht einzuschränken. Stattdessen sollten wir es den heranwachsenden Jahrgängen ermöglichen, auch ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Das bedeutet, keine Altlasten zu hinterlassen: kein CO2, keine Erderwärmung, kein Artensterben. Hierfür braucht es ein Miteinander und es ist wichtig, dass die jetzigen Entscheidungsträger die Ängste der Jugend verstehen und ernst nehmen.
Was glauben Sie hat größeren Einfluss auf eine nachhaltige Entwicklung: Kundenpräferenzen oder Produktangebote?
Eine interessante Frage. Es braucht Nachfrage vom Markt, sonst können sich die Produkte nicht vertreiben. In den letzten Jahren war das Thema nachhaltige Finanzen und besonders nachhaltige Versicherung bei den Kunden noch so unbekannt, dass die Kommunikation darüber schwierig war. Es kam oft die Frage, wieso es das jetzt eigentlich braucht und was an einer Versicherung nachhaltig sein solle. Das erschwert auch Gespräche mit Investoren. Dies ändert sich allerdings gerade. Immer mehr Menschen wünschen sich inzwischen eine ökologisch-soziale und transparente Versicherung, bei der sie mitbestimmen können. Jetzt braucht es das Angebot, ehrlich nachhaltige Produktangebote, kein Greenwashing.
Interview: Milan Herrmann
TIPP: Sie interessieren sich für das Thema Nachhaltigkeit? Dann empfehlen wir Ihnen unsere Rezension „Investieren wie ein Förster“ oder unser Interview mit Jens Tolckmitt von der vdp.