BANKINGNEWS: Herr Schick, Sie sind Gründer der Bürgerbewegung Finanzwende. Wieso haben Sie die Initiative 2018 ins Leben gerufen?
Gerhard Schick: Mir war bereits seit einiger Zeit eine Schieflage im Bundestag aufgefallen. An vielen Diskussionen nehmen primär Branchenvertreter teil und weniger unabhängige Experten. Zieht man nur seit der Finanzkrise einmal Bilanz, stellt man fest: Es gibt viel Arbeit und viele Gesetze, aber die entscheidenden Reformen sind eigentlich alle ausgebremst worden. Statt vielen Einzelpersonen braucht es eine gesellschaftliche Organisation, die diese Arbeit bündelt. Vorbild ist der Umwelt- oder Sozialbereich, in dem es schon einige Nichtregierungsorganisationen gibt. Im Finanzmarktbereich gab es bisher keine, und diese Lücke wollten wir schließen.
Auf welche Reformen spielen Sie an?
Zum Beispiel ist das Trennbankengesetz in Europa von der Liikanen-Kommission sinnvoll vorbereitet worden. Es ist dann in erster Linie den französischen Großbanken gelungen, ihre Regierung davon abzubringen. Ähnliches gilt für die Regulierung der Geldmarktfonds 2008. Auch hier hat sich die Branche durchgesetzt und die nötige, strenge Regulierung blieb aus. Ein weiteres Beispiel ist der Hochfrequenzhandel. Es hieß, es soll ein Tempolimit am Finanzmarkt geben. Trotzdem schieben wir weiterhin volkswirtschaftlich unproduktiv Wertpapiere in einem Wahnsinnstempo hin und her, was vor allem zulasten der längerfristigen Investoren geht. Aber das sind nur einige Beispiele von vielen.
Bei Krisen wird oft gesagt, dass man aus vorherigen hätte lernen oder sie sogar hätte kommen sehen können.
Deswegen bin ich auch skeptisch bei der risikogewichteten Eigenkapitalquote, weil diese Modelle nur vergangenheitsbezogene Indikatoren haben. Ich schaue stärker auf den allgemeinen Puffer (Leverage Ratio), also das Verhältnis von Kernkapital zur Bilanzsumme. In der Vergangenheit entstanden die Krisen häufig genau in den Bereichen, in denen man die Puffer abgeschwächt hat, weil sie angeblich so stabil sind. Beispiele sind hier Immobilien oder Staatsanleihen. Ich traue mir nicht zu, vorauszusagen, wann und wo die nächste Krise ausbricht. Es gibt aber ein paar absehbare volkswirtschaftliche Trends.
Zum Beispiel?
Der zentrale Krisenindikator ist für mich das Verhältnis von privater und öffentlicher Verschuldung zur realen Wirtschaftsleistung. Der ist seit 2008 kontinuierlich angestiegen. Deswegen halte ich die Gefahr einer neuerlichen Finanzkrise, also nicht nur den Zusammenbruch einzelner Akteure, sondern einer breiteren Krise für sehr real. Außerdem ist der SchattenbankenBereich in den letzten Jahren enorm gewachsen. Zu Beginn der Corona-Pandemie musste besonders die amerikanische Zentralbank massiv intervenieren, sogar noch stärker als bei der Lehman-Pleite, um die Anleihemärkte zu stabilisieren. Dieser Eingriff rettete auch einige Hedgefonds, deren riskantes Geschäftsmodell durch eine Abwärtsspirale durchkreuzt wurde. Das ist nicht so wahrgenommen worden, weil in Deutschland alle auf Inzidenzen und Lockdown fokussiert waren, aber im März 2020 hätte es fast eine weitere Großkrise gegeben.
„Im März 2020 hätte es fast eine weitere große Krise gegeben.“
Werden die Banken bei einer neuen Krise wieder gerettet?
Ich befürchte es, denn beim Eigenkapital wurde nicht genug getan. Ich bezweifle, dass Convertible Bonds in einer Krise wirklich funktionieren. Ich bin ein Freund von ausreichend Eigenkapital. Wir wissen aus den letzten Finanzkrisen einfach, dass die ungewichtete Quote am besten bei über zehn Prozent liegen sollte, und fordern das auch aus diesem Grund. Die Finanzkrise war bekanntlich 2008 und die letzten Reformen sollen 2035 in Kraft treten. Diese Branche hat es geschafft, die Konsequenzen aus der Finanzkrise enorm zu verzögern. Und natürlich ist dann eingetreten, was eintreten musste: In der Corona-Pandemie, über zehn Jahre nach der Finanzkrise, wurde der Aufbau eines Puffers aufgrund des Krisenstatus wieder vertagt. Und so verzögert sich das alles immer weiter. Auch die BaFin hat den ursprünglich für Juli 2020 vorgesehenen Aufbau der zusätzlichen antizyklischen Kapitalpuffer nicht durchgeführt. Meine Beobachtung ist, dass die Bankenlobby so stark ist, dass sie es geschafft hat, die Politik immer wieder auszubremsen.
Eine Finanzwende braucht mündige Bürger. Finanzielle Bildung ist ein altbekanntes Problem – was muss hier aus Ihrer Sicht passieren und von wem?
Wir sollten die Finanzmärkte so aufstellen, dass sie für die Bürger passen, anstatt sie für überkomplexe Finanzmärkte „erziehen“ zu wollen. Der Finanzausschuss, also Leute, die es im Wesentlichen wissen müssten, mutet dem Normalverbraucher Produkte zu, die selbst Experten nicht verstehen können. Und das kann ich nicht über Bildung lösen, sondern nur über gute Beratung und einfache Finanzprodukte. Das soll nicht heißen, dass man im Bildungsbereich nicht auch aktiv werden und Unterrichtsinhalte teilweise über denken sollte. Selten wird das Basiswissen gelehrt. Aber Abgeordnete müssen verschiedene Perspektiven einnehmen können. Wenn Sie aus dem Bildungsbereich und nicht als Finanzer auf die Welt gucken, kommen Sie darauf, dass Finanzbildung nicht das Wichtigste ist.
Sondern?
Wir daran arbeiten müssen, dass Menschen überhaupt bildungsfähig sind, dass weniger ohne Abschluss abgehen, alle vernünftig lesen und schreiben und klare Falschnachrichten erkennen können. Als Bildungspolitiker haben Sie dabei andere Prioritäten. Aus finanzpolitischer Perspektive sollte es an erster Stelle stehen, die künstlich geschaffene Überkomplexität abzubauen. Das gilt auch für die Finanzgesetzgebung. Das ist auch das Ziel der Finanzwende: In dem Moment, wo Transparenz darüber geschaffen wird, was am Finanzmarkt passiert, haben wir schon die Hälfte gewonnen.
Die Finanzwende kritisiert auch die BaFin. Was werfen Sie der Behörde konkret vor?
Viele, die bei der Finanzwende engagiert sind, haben im Herbst 2019 einen Report veröffentlicht – gemeinsam mit Mitgliedern, die die BaFin seit Jahren beobachten. Und der darauffolgende Wirecard-Skandal hat gezeigt, dass unsere Kritik berechtigt gewesen ist. Die BaFin ist zu formaljuristisch, zu mutlos, zu stark an der Seite der Branche. Ihre Aufgabe ist es schließlich, die Branche zu kontrollieren und die „Bösen“ rauszufiltern. Aber diese Aufgabe hat die BaFin in den letzten Jahren an vielen Stellen nicht erfüllt.
Woher stammt diese Einschätzung?
Das Thema Cum-Ex ist ein Riesen-Kriminalitätsthema im deutschen Finanzmarkt. Die BaFin war die letzte, die den Ernst der Lage erkannt hat, obwohl sie 2007 durch einen Whistleblower im Detail darüber informiert worden ist. Wie kann eine Aufsichtsbehörde eine derartige Ignoranz gegenüber einem so großen Kriminalitätsthema haben, das sogar ihre eigene Argumentation widerlegt und zu einem Solvenz-Problem bei der Maple Bank geführt hat? Auch bei der Warburg Bank war die Frage der Insolvenz im Raum. Das heißt, die BaFin hat borniert weggeschaut und ihre eigene Aufgabe der Solvenz-Aufsicht ignoriert. Ich erwarte, dass eine Aufsichtsbehörde die Geschäftsmodelle versteht und erkennt, wenn ein Geschäftsmodell offenkundig nur aufgrund von kriminellen Aktivitäten möglich ist. Der nächste Fall, bei dem sie auf der falschen Fährte war, war der Greenwashing-Skandal bei der DWS. Der entscheidende Impuls kam von den amerikanischen und nicht von den deutschen Aufsichtsbehörden.
Die deutsche Bankenlandschaft besteht aus über 1700 Banken – kann eine Behörde sie alle überwachen?
Sie starten ja nicht bei null, sondern bekommen immer wieder Hinweise. So berichtete mir etwa ein französischer Aufseher, dass sich deren Mitarbeiter systematisch auf die E-Mail-Verteiler von ein paar besonders auffälligen Leuten setzen. Sobald ein Mailing rausgeht, bekommen sie die Informationen mit. Ich glaube nicht, dass die BaFin das bisher gemacht hat. Es mangelt nicht an Aufsehern, sondern vor allem an dem Willen. Übrigens weiß ich auch aus Gesprächen mit Aufsehern, dass sie teilweise frustriert waren, weil sie aus dem Mittelmanagement ausgebremst wurden. Und ich weiß von Sachverhalten, die in der Aufsichtsbehörde bekannt waren, aber bei denen nicht gehandelt wurde.
„Die BaFin ist zu formaljuristisch, zu mutlos, zu stark an der Seite der Branche.“
Jetzt haben wir sowohl einen neuen Finanzminister als auch einen neuen BaFin-Chef. Sehen Sie eine BaFin-Wende?
Ich nehme tatsächlich neue Aktivitäten wahr. Aber das heißt nicht, dass alles von einem Tag auf den anderen perfekt ist. Wir werden die Entwicklung kritisch begleiten. Ich glaube, dass der Bundesfinanzminister zu nah an der Branche ist und dass er öffentlich einen Watchdog wie uns braucht. Aber mittlerweile scheint Finanzkriminalität endlich ernster genommen zu werden. Die Maßnahmen sind noch nicht alle gut, aber ein paar der langjährigen Defizite werden in dieser Bundesregierung nun angegangen. Ich halte das Bundesfinanzkriminalamt auch nicht für die Lösung aller Probleme. Dennoch hätte ich mir von früheren Finanzministern gewünscht, dass sie überhaupt einmal zugeben, dass Deutschland hier ein Problem hat. Jetzt kommt endlich ein Bargeldverbot bei Immobilientransaktionen. Absurd, dass Deutschland das bisher nicht geschafft hat.
Sind Sie auch Befürworter einer grundsätzlichen Bargeldabschaffung?
Ich halte mich definitiv für einen Verteidiger des Bargeldes, auch als einen Teil von Freiheit. Wenn ich ein Bargeldverbot bei Immobilien durchsetze, schaffe ich damit nicht die Möglichkeit ab, mal eine Zeitschrift anonym mit Bargeld zu zahlen. Das muss man einfach auseinanderhalten. An den Aussagen von Frau Faeser finde ich ermutigend, dass zum ersten Mal das Thema Vermögensabschöpfung im Raum steht. Administrativ ist die Reform aus 2017 noch nicht überall angekommen. Deutsche Bundesländer sind beim Vermögensabschöpfen von kriminellen Organisationen und Betrügern überaus schlecht. Deswegen ist das Warburg-Beispiel so signifikant. Hier wurden Gelder aus kriminellen Geschäften nicht zurückgefordert und der Finanzsenator hat nicht interveniert. Strafrechtlich kann das wahrscheinlich nicht angegriffen werden, aber die politische Verantwortlichkeit steht außer Frage.
„Diese Branche hat es geschafft, die Konsequenzen aus der Finanzkrise enorm zu verzögern.“
Die aber nicht wirklich öffentlich debattiert wird, oder?
Bei Cum-Ex und Cum-Cum wird sichtbar, dass die Finanzbranche in den letzten Jahren mit illegalen Geschäften mehrere Milliarden Euro verdient hat. Und ich nehme keinerlei Diskussion in der Branche wahr. Es hat sich noch kein Vertreter dazu geäußert, dass wir in Siegburg einen zusätzlichen Gerichtssaal brauchen, weil unser Justizsystem angesichts der massiven Kriminalität in der deutschen Finanzbranche überfordert ist. Die Anzahl der Menschen, die von kriminellen Geschäften wussten, und der Anzahl an Personen, die versucht haben, etwas dagegen zu unternehmen, steht in keinem Verhältnis. Es gibt Institute, die das klar verneint haben, etwa die NordLB. Aber es müssen erschreckend wenige gewesen sein.
Der Fall Wirecard hat gezeigt, welches systemische Risiko entsteht, wenn große Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auch ein Beratungsmandat innehaben. Wie könnte eine Reform aussehen?
Anfangs sprachen wir ja von der Liste ausgebremster Reformen. Der Kommissar Michel Barnier hat nach der Finanzkrise eine umfassende Reform des Wirtschaftsprüferwesens in Europa vorgeschlagen. Sie ist vollständig ausgebremst worden. Und genau das ist uns auch bei Wirecard passiert, was die negativen Wirkungen der weitgehend ausgebliebenen Reformen nur unterstreicht. Ich glaube, dass eine sinnvolle Marktordnung bei den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften noch nicht erreicht ist. Hier muss es eine komplette eigentumsrechtliche Trennung geben. Meiner Ansicht nach ist der Gedanke der Joint Audits richtig, auch wenn er Kosten verursacht. Abgesehen davon sind diese Testate Grundlage dafür, dass Investoren darauf vertrauen können, dass die Zahlen stimmen. Und im Verhältnis zu dem, was so ein Wirecard-Fall kostet, sind die Kosten für gute Wirtschaftsprüfungen gering.
Wie bewerten Sie rückblickend Ihre Entscheidung, die Initiative Bürgerbewegung Finanzwende gegründet zu haben?
Als Abgeordneter habe ich mich gefragt, ob ich die Finanzwende gründen oder im Bundestag bleiben soll. Wenn man merkt, dass man ständig alleine gegen diverse Interessensvertreter kämpft, gibt es irgendwann Sinn, das Spielfeld zu verändern. Und ich glaube, durch Öffentlichkeit können wir es schaffen, eine vernünftige Diskussion zu führen. Deshalb unterstützen auch einige Leute die Finanzwende, die nicht immer unserer Meinung sind. Alle glauben aber, dass wir nur zu vernünftigen Lösungsansätzen kommen können, wenn es erst einmal jemanden gibt, der die allgemeinen Branchendiskussionen hinterfragt. Kurzum: Der Schritt war also goldrichtig.
Interview: Thorsten Hahn und Fiona Gleim
Gerhard Schick
Bürgerbewegung Finanzwende
Gerhard Schick war für verschiedene Institute und Stiftungen wie die Bertelsmann Stiftung tätig, bevor er Mitglied im Bundestag wurde. Zwischen 2005 und 2018 nahm er für die Bündnis 90/Die Grünen Platz auf der Abgeordnetenbank und vertrat die Fraktion über zehn Jahre als Finanzpolitischer Sprecher. Seit 2018 ist Schick im Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende.
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