„Der Blick auf das ‚Big Picture‘ fehlt noch heute“ 

Professor Dr. Bernd Rudolph arbeitete die Pleite des Bankhauses Herstatt als Mitarbeiter einer Studienkommission wissenschaftlich mit auf. Im Interview mit der BANKINGNEWS spricht er über den Fall der Privatbank.


Der rasante Aufstieg der Herstatt-Bank in Zahlen

BANKINGNEWS: Herr Professor Rudolph, als 1974 Herstatt pleiteging, hielt die Bundesrepublik den Atem an. Kam der Crash damals überraschend?     

Professor Rudolph: Ja. Ich hatte Mitte der 1960er Jahre eine Banklehre bei der Deutschen Bank absolviert, danach Volkswirtschaft studiert und im Anschluss promoviert. Ich kannte mich also im Bankgeschäft etwas aus; doch konnte ich mir die – für mich plötzliche – Pleite von Herstatt zunächst gar nicht erklären. Solch einen Zusammenbruch hatte es in Deutschland nach dem Krieg bis dato nicht gegeben.  

Aber die erste Hälfte der 1970er waren unruhige Zeiten an den Finanzmärkten: Anfang März 1973 beschlossen mehrere europäische Länder den Ausstieg aus dem System fester Wechselkurse – das war der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods. Vorausgegangen war der „Nixon-Schock“ 1971, als der US-Präsident die Goldbindung des Dollar plötzlich aufhob und damit das Festkurssystem in Frage stellte. 1973 kam es dann noch zur Ölpreiskrise anlässlich des Jom-Kippur-Krieges. Es kam also einiges zusammen, was sich auf die bis dahin ziemlich heile Bankenwelt auswirkte. Insofern passt der Fall Herstatt rückblickend in diese Zeit. 

Was gab den Ausschlag für die Insolvenz? 

Letztlich resultierten die gigantischen Verluste aus der Fehleinschätzung der Dollarentwicklung nach der Freigabe der Wechselkurse, nachdem die Prognosen zu Beginn noch in die richtige Richtung wiesen. Aber trotz der Verluste wäre Herstatt noch zu retten gewesen, wenn die Großbanken stützend eingegriffen hätten. Ich denke, man wollte Herstatt als kleinen Konkurrenten einfach bankrott gehen lassen. Ein Wille zur Rettung war nicht vorhanden. Dabei bestand ein erhebliches Systemrisiko für die Finanzmarktstabilität, das man aber erst später erkannt hatte. Die Herstatt-Bank konnte nämlich nach der Schließung durch die Bankenaufsicht im Juni 1974 die von ihr zuvor im Interbankenhandel eingegangenen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen. Das sorgte natürlich an den internationalen Märkten für erhebliche Unruhe. Als Antwort wurde noch 1974 der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (Basel Committee on Banking Supervision – BCBS) bei der BIZ gegründet.  

Gibt es den einen Schuldigen für den Fall der Herstatt-Bank?  

Einen Alleinschuldigen kann ich nicht ausmachen. Sicherlich hat sich Ivan Herstatt von dem Erfolg des Dany Dattel blenden lassen, und davon ausgehend sind auch die Wirtschaftsprüfer und die Aufsicht geblendet worden. Die internen Kontrollsysteme haben bestimmt versagt, daher konnten die Spekulanten innerhalb der Herstatt-Bank auch ihre Limits mehrfach überschreiten. Und offenbar durften auch andere Mitarbeiter in der Bank „mitspielen“. Letztlich kamen viele Aktivitäten und Umstände zusammen, die im Zusammenspiel den Ausschlag für die hohen Verluste gaben. 

Vieles ist in den letzten 50 Jahren über diesen Crash und seine schillernden Protagonisten geschrieben worden. Warum faszinieren uns die Geschehnisse rund um eine gescheiterte Privatbank noch heute? 

Erstaunlich war, welche Faszination damals von den „Goldjungs“ auf die Zeitgenossen ausging. Sie verfehlte offenbar nicht ihre Wirkung auf die Bankleitung, die Wirtschaftsprüfer und die Aufsicht. Ein vordergründig erfolgreiches System machte kollektiv blind und schützte die Protagonisten offenbar bis zum Untergang vor einer genauen Untersuchung. 

Und dann gibt es da so pikante Details in der Story, wie die berühmte Abbruchtaste zur Unterdrückung der Meldung von Verlustpositionen am Computer von Dany Dattel, damals eine technische Sensation, mit der gigantische Verluste für eine gewisse Zeit aus den Bilanzen herausgehalten werden konnten. Ich habe sie persönlich nie gesehen, aber es hat sie wohl tatsächlich gegeben.  

Was genau war Ihre Tätigkeit im Rahmen der Aufklärung?   
Die Studienkommission wurde in Reaktion auf Herstatt gegründet, verfolgte aber zunächst weitgehend gesellschaftspolitische Fragen. Unsere Aufgabe bestand in der Prüfung der struktur- und gesellschaftspolitischen Stellung der Kreditinstitute. Darunter fielen Fragen wie Universal- oder Trennbanksystem, Verbot oder Einschränkung des Beteiligungsbesitzes, Kumulierung von Kreditgeschäft, Emissionsgeschäft, Vollmachtstimmrecht und Aufsichtsratsmandate oder Fragen des Kreditwesengesetzes. Ich selbst habe an der empirischen Bestandsaufnahme der Aufsichtsratsmandate und des Beteiligungsbesitzes sowie des Depotstimmrechts der Banken mitgewirkt. 

Kann sich ein ähnlicher Fall heute wiederholen? 

Der Fall Wirecard hat gezeigt hat, dass ähnliche Fälle auch heute nicht auszuschließen sind. Auch von Wirecard und seinen Vorständen ging eine gewisse Faszination aus, der Profis und Personen bis in die höchsten Kreise der Politik erlegen sind. Das Grundproblem hat sich dabei kaum verändert. Aufsichtliche Prüfungen wie auch Bilanzprüfungen legen ihren Schwerpunkt auf die kleinteiligen Geschäftsvorfälle, aber der Blick auf das „Big Picture“ fehlt noch heute. Dabei gibt es inzwischen andere technische Ansätze für Kontrollen als damals: digitale Hinweisgebersysteme, Whistleblower-Plattformen, Strategieprüfungen, Persönlichkeits-Checks, KI-Auswertung von Presseveröffentlichungen. Die Werkzeuge sind vorhanden, man muss sie nur einsetzen. 

Interview: Marco Wehr

Professor Dr. Bernd Rudolph

Professor Dr. Bernd Rudolph arbeitete die Pleite des Bankhauses Herstatt als Mitarbeiter einer Studienkommission wissenschaftlich mit auf. Der Münchner war Mitglied der Aufsichtsräte von Helaba Invest und Bayern LB, lehrte als Universitätsprofessor für Kapitalmarktforschung und Finanzierung unter anderem an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er ist zudem Vorstandsvorsitzender des Münchner Finance Forums.

 

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