Einmal Galaxis und zurück: Die harte Landung der Raumstation Orion

Im Sommer jährt sich zum 50. Mal der Zusammenbruch der Kölner Privatbank Herstatt. Die filmreife Pleite mit ihren schillernden Protagonisten kam einem Erdbeben gleich, das auch ein halbes Jahrhundert später noch nachwirkt.


Plakat des Bankhauses Herstatt, Anfang 1970er Jahre

Für viele das Pressefoto des Jahres, ein Schwarzweißfoto vom 27. Juni 1974 – trotz des deutschen Sieges bei der Fußball-WM nur wenige Tage später mit einem strahlenden Franz Beckenbauer und der FIFA-Trophäe in seinen Händen. 

Zu sehen ist darauf: Das Gebäude unter Sachsenhausen 6 in Köln, Hauptsitz des Bankhauses Iwan D. Herstatt. Hunderte von Kunden belagern den von Polizisten gesicherten Eingang. Ein Mann im Anzug mit Megafon, Bankdirektor Hans-Hermann Gerloff, versucht die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Wut, Panik, Existenzangst: Die Menschen fürchten den Verlust ihres Ersparten. Kaum ein älterer Deutscher, der dieses Bild nicht irgendwo in seinem Gedächtnis abgespeichert hat, und kaum ein TV-Rückblick aus den 1970ern, dem zum Thema Herstatt-Pleite viel mehr als dieses eine Foto einfällt, das stellvertretend für einen lange Zeit unbegreiflichen Finanzkrimi herhalten muss. 

Die Science-Fiction-Welt des Dany Dattel

Dany Dattel war Abteilungsleiter der Devisenabteilung des Instituts. Ein Superstar der bundesdeutschen Finanzszene. Bis ihn sein scheinbar sicheres Gespür im Devisenhandel verließ und er immer verzweifelter werdend damit begann, den Erfolg auf kriminelle Weise erzwingen zu wollen. Dattel und seine jugendliche Clique der „Goldjungs“, so etwas wie die Rockstars der Devisenspekulation, wussten sich selbst perfekt als Zukunftsbanker zu inszenieren. Das Sextett arbeitete weitgehend unbehelligt von Rückfragen und abgekoppelt von anderen Abteilungen der Bank in der mit Computertechnik und vielen Telefonen vollgestopften „Raumstation Orion“. Eine derartig ausgestatteter Bankarbeitsplatz wirkte auf Zeitgenossen wie Science Fiction und führte zu der an die damals populäre Fernsehserie „Raumpatrouille Orion“ angelehnten Bezeichnung. Eine Aufsicht im heutigen Sinne gab es damals weder intern noch extern. 

Als der Chef der „Goldjungs“ im Februar 2023 mit 83 Jahren starb, rauschte es noch einmal im Blätterwald. Wieder einmal, denn alle paar Jahre gibt es verlässlich Neuigkeiten rund um das Thema Herstatt. Und wieder dieses Schwarzweißfoto. Diesmal waren es die Nachrufe auf Dany Dattel. Ein endloser Fall: Was im Jahr 1974 begann, fand erst 2006 mit der endgültigen Abwicklung der Bank einen Abschluss, zumindest juristisch. 

Wie es im Detail zu dieser Tragödie kommen konnte, beschäftigt Wirtschaftshistoriker bis heute. Brachte es der Herstatt-Bank anfänglich sagenhafte Gewinne ein, dass die Goldjungs US-Dollars weltweit günstig einkaufen und teuer wieder abstoßen konnten, wurde irgendwann alles, was sie anfassten, zu Blei. Der Dollarkurs stieg einfach nicht mehr. Sie mussten unter Preis verkaufen. Als das Bundesaufsichtsamt am 26. Juni 1974 Herstatt die Banklizenz entzog, beliefen sich die Schulden der Herstatt-Bank auf die damals unvorstellbare Summe von rund 2,2 Milliarden D-Mark. Der deutsche Aktienmarkt brach ein. Die Raumstation Orion erschuf ein gigantisches Schwarzes Loch, das sie am Ende selbst verschluckte.  

Von seriös bis Boulevard: Unzähliges ist über das Thema geschrieben worden. Wer sich dafür interessiert, findet allein unter dem Wikipedia-Eintrag „Herstatt-Bank“ viele Quellen, die offen zugänglich sind. Empfohlen seien an dieser Stelle die beiden hervorragend recherchierten SPIEGEL-Artikel „Gespielt, getäuscht, gemogelt“ aus dem Jahr 1975.  

Die richtigen Lehren aus der Herstatt-Pleite

Dattels Chef Herstatt beteuert bis zu seinem Tod 1995, von den Vorgängen in seinem Haus nichts gewusst zu haben. Mit seiner Verteidigungsschrift „Die Vernichtung: Glanz und Ende des Kölner Bankhauses I.-D. Herstatt oder wie ich um mein Lebenswerk betrogen wurde legte der frühere Bankeigentümer seine persönliche Sicht auf die Vorgänge dar. Das Gericht glaubte ihm nicht. 1987 wurde er zu zwei Jahren Bewährungsstrafe wegen Untreue verurteilt, die Strafe aber später erlassen. Das Buch ist ein lesenswertes Dokument der Zeitgeschichte und unter www.herstatt.de/die-familie-herstatt frei verfügbar. 

Fazit: Ein Anfang der 1970er mit der Freigabe der Wechselkurse völlig neues Finanzsystem und moderne technische Möglichkeiten der Kommunikation und Datenverarbeitung eröffneten auf dem Feld des Devisenhandels ganz neue Möglichkeiten, die viele Zeitgenossen nicht auf Anhieb durchblickten. Aber auch die Protagonisten beherrschten die Entwicklungen nur anfänglich.  

Erste Erfolge befeuerten eine Gier, die schließlich in den Abgrund führte. Statt ihr Scheitern frühzeitig einzugestehen, versuchten die Goldjungs horrende Verluste mit krimineller Energie und in der Hoffnung, noch die Wende zu schaffen, zu kaschieren. Vergeblich. Die Lawine in den Abgrund war nicht mehr aufzuhalten.  

Doch in einem sind sich Experten einig: Es wurden viele richtige Lehren gezogen. Die Ereignisse rund um die Herstatt-Bank trugen dazu bei, die Bankenaufsicht und -regulierung grundlegend zu reformieren. Allerdings zeigt sich, wie der Fall Wirecard belegt, dass skrupellose kriminelle Energie, gepaart mit technischem Know-how, auch heute noch sämtliche Kontrollinstanzen zu überwinden weiß. In Sachen Wachsamkeit darf es daher kein Nachlassen geben. 

Lehren aus der Herstatt-Pleite

  • So katastrophal die Insolvenz damals für viele Gläubiger der Bank und die Beteiligten war, hatte der Schock aus regulatorischer Sicht viele heilsame Auswirkungen auf das Finanzsystem. 
  • Stärkung der Bankenaufsicht: Die Insolvenz der Herstatt-Bank führte zu einer verstärkten Regulierung und Überwachung des Bankensektors in Deutschland und international. Dies führte zu einer verbesserten Stabilität des Finanzsystems und einem stärkeren Fokus auf Risikomanagement. 
  • Verbesserung des Zahlungsverkehrs: Die Herstatt-Krise trug dazu bei, dass die Mechanismen des internationalen Zahlungsverkehrs verbessert wurden. Insbesondere wurde das „Herstatt-Risiko“, das auftritt, wenn Zahlungen in unterschiedlichen Zeitzonen erfolgen und eine Bank vor der Abwicklung zahlungsunfähig wird, stärker berücksichtigt und durch Mechanismen wie das Continuos Linke Settlement (CLS) reduziert. 
  • Erhöhte Sensibilität für Risikomanagement: Die Insolvenz der Herstatt-Bank war ein Weckruf für Banken und Aufsichtsbehörden, die Risiken im Finanzsystem ernst zu nehmen. Sie führte zu einer verstärkten Sensibilisierung für Risikomanagementpraktiken, sowohl innerhalb der Banken als auch auf regulatorischer Ebene. 
  • Stärkung der internationalen Zusammenarbeit: Die Herstatt-Krise führte zu verstärkter internationaler Kooperation und Kommunikation zwischen Zentralbanken und Aufsichtsbehörden. Dies half, die Reaktion auf Finanzkrisen zu verbessern und die grenzüberschreitende Stabilität des Finanzsystems zu fördern.

Tipp: Sie möchten weitere interessante Beiträge aus der aktuellen BANKINGNEWS lesen? Lesen Sie hier das Vorstandsinterview oder hier ein Interview mit Kriminalbeamtin Christa Lübbers über Geldautomatensprengungen.